Mit der Verquickung von Religion und türkischem Nationalismus ist es Erdoğan gelungen, dass nun auch die meisten jener Türken und Türkinnen schweigen, denen die Hagia Sophia völlig egal ist.

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Sie war 916 Jahre lang Kirche, 481 Jahre Moschee, 86 Jahre Museum: Gut 25 Jahre nachdem Tayyip Erdoğan, damals Bürgermeister von Istanbul, international einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, macht er die Hagia Sophia wieder zum islamischen Gotteshaus und erfüllt sich damit einen Herzenswunsch. Als Antwort auf die Entrüstung in der (ehemals) christlichen Welt werden dieser von den türkischen Medien nun sämtliche – es sind nicht wenige – im Lauf der Geschichte in Kirchen umgewandelte Moscheen bildlich um die Ohren gehauen: als ob die Jahreszahl, wann so etwas geschieht, keine Rolle spielte.

Erdoğans Schritt, der zur Freude der europäischen Rechten am einfachsten in den Rahmen einer christlich-muslimischen, westlich-nahöstlichen Auseinandersetzung passt, hat jedoch noch andere, viel komplexere Dimensionen. Erdoğan ist nicht einfach nur irgendein Islamist. Mit der Verquickung von Religion und türkischem Nationalismus ist es ihm gelungen, dass nun auch die meisten jener Türken und Türkinnen schweigen, denen die Hagia Sophia völlig egal ist oder die zumindest meinen, dass sich für deren Islamisierung die weitere Verschlechterung der Beziehungen zu Europa nicht lohnt. Nicht zufällig sind es die linken türkischen Kurden, die protestieren: Sie sind ja in dieser national-islamischen türkischen Erzählung nicht enthalten.

An die islamische Welt gerichtet

Es ist ein nationalistischer Akt, ein hegemonialer Akt, und die meisten Analysen lassen völlig aus, an wen er vor allem gerichtet ist: nicht an die christliche, sondern an die islamische Welt. "Ich bin der Einzige, der es momentan bringt!", ist die Botschaft, wenn Erdoğan in seiner Siegesrede auch die Befreiung von Al-Aqsa in Jerusalem erwähnt. So einfach gestrickt ist der türkische Präsident natürlich nicht, dass er meint, die Israelis aus Jerusalem vertreiben zu können. Aber er präsentiert sich als den Einzigen, der heute überhaupt in der Lage ist, die Interessen der islamischen Welt politisch zu vertreten. Gemeint ist: Die Araber können es nicht.

Dieser Konflikt ist längst auch in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) angekommen. Er verläuft entlang der Linie Muslimbrüder und deren Gegner und ist eines der Nebenprodukte des Arabischen Frühlings von 2011. Dieser stärkte in den ehemaligen republikanischen Autokratien zuerst einmal die Muslimbrüder und damit Erdoğans Ideologie. Die Gegenreaktion, getragen von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Abdelfattah al-Sisis Ägypten, war heftig. Aber die Kriege in Syrien und in Libyen gaben Erdoğan später die Chance, seine Macht auch auf ehemalige arabische und nordafrikanische Teile des Osmanischen Reichs zu projizieren.

Bemühung um Mäßigung

Auch der Hijaz – wo im heutigen Saudi-Arabien Mekka und Medina liegen – gehörte einmal dazu. Entsprechend allergisch reagiert man dort auf die neoosmanischen Anflüge Erdoğans – und ist besonders verwundbar in einer Zeit, in der man den eigenen salafistischen Islam mäßigen will.

Es ist also ein beinharter politischer Machtkampf innerhalb der islamisch geprägten Welt. Das simplizistische Anrufen eines nicht näher definierten "politischen Islam", in dem ja auch die österreichische Politik exzelliert, wird dem in keiner Weise gerecht. Wenn eine Nahostpolitik sich nur an populistischen Reflexen – Migranten, Islam – orientiert, übersieht sie, was wirklich los ist in der islamischen Welt. (Gudrun Harrer, 13.7.2020)