Reizvolle Geschichten ohne Worte: Pianist Martin Listabarth.

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Wie Denken und Fühlen kooperieren, ist eine jener ewigen Fragen, die keine klare Antwort dulden. Wie beide beim Vorgang der Interpretation oder Improvisation von Musik zusammenspielen, bleibt ebenfalls ein Rätsel.

Als gesichert darf jedoch gelten, dass die vom Musiker imaginierten Geschichten und Personen seinem Denken und Fühlen die Richtung weisen. Martin Listabarth bestätigt die Vermutung, alles andere wäre auch seltsam.

Seine aktuelle Solo-CD ist mit Short Stories betitelt und präsentiert den 25-jährgen Wiener als Geschichtenerzähler ohne Worte, quasi als Porträtmaler, bei dem Töne und Harmonien zu Farben werden. Etwa im Stück Nachtwächter, das um Listabarths Kindheitsimpressionen kreist: Es handelt von einem "als Nachtwächter verkleideten Stadtführer aus Lindau".

Mysteriöse Stimmung

Mit Laterne, Mantel, Hellebarde und Schlüsselbund ausgestattet, wollte besagter Stadtführer einst das mittelalterliche Lindau aufleben lassen. "Die mysteriöse Stimmung" seiner Ausstrahlung galt es einzufangen. "Der langsam voranschreitende Bass stellt für mich die Schritte des Nachtwächters dar, der langsam durch die dunkle Stadt zieht, während er seine geheimnisvollen Geschichten erzählt."

Listabarth simuliert hier jedoch keine mittelalterlichen Klänge. Er ist tief im Jazz verwurzelt, legt eine schummrige Nachtwächter-Ballade hin, die trotz Entschleunigung durch substanzvolle Ideen Innenspannung und Atmosphäre hält.

Wichtig: Das Stück überzeugt auch als "absolute Musik", was auch Listabarths Intention ist. Geschichte und Personen helfen einfach, "Entscheidungen zu treffen, in welche Richtung Stücke gehen sollen", was sich auf "Spannungsverlauf, Länge, Dynamik, Textur und Dichte" bezieht.

Das Bemerkenswerte bei Listabarth, der unlängst im Wiener Musikverein zu hören war: Ob sanfte Ballade oder extrovertierte Linearität (plus gutes altes Stridepiano wie bei Welcome To Kenner Road) immer ist ein gestalterisches Aufbäumen spürbar. In Solosituationen ist das ein Überlebenselixier.

Brad war wichtig

Für den auch klangsensitiven, klassisch geschulten Listabarth war der Pianist Esbjörn Svensson wichtig, zum anderen der poetische Tastengrübler Brad Mehldau und dessen "Versionen von Radiohead-Songs": An diesen entlang wuchs der Wunsch, das "Handwerk Improvisation" zu erlernen. Bei Mehldau schätzt er auch "die Offenheit gegenüber Elementen aus Klassik und Pop". Auch die Solo-Aufnahmen von Fred Hersch will er allerdings nicht missen.

Dieser spiele immer "mit viel Risiko, um die Freiheiten auszuloten. Natürlich begeistern mich auch die Soloaufnahmen von Fats Waller und Earl Hines." Listabarth könnte wohl noch lange von seinen Impressionen die Jazzhistorie betreffend erzählen. Er muss jedoch nicht. All seine Erkundungen spiegeln sich originell auf Short Stories.

Produktives Unwohlsein

Auch im letzten Stück Out of Place, worin es noch persönlicher wird. Listabarth versteht es als Nachwort zum Album: "In Momenten, in denen ich mich unwohl oder ,fehl am Platz‘ fühle, genügt es oft, mir im Kopf Musik vorzustellen und anzuhören, um mich sofort sicherer und begleitet zu fühlen." Im Kopf seien Elemente des Stücks auch entstanden. Das nennt sich dann wohl produktives Unwohlsein. (Ljubiša Tošic, 14.7.2020)