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Im Strandbad Weißensee fand 2019 ein Poetry-Slam statt. Begonnen hat es aber 1965 mit einer "Poetry Incarnation" in der Royal Albert Hall.

Foto: picturedesk.com / dpa / Jörg Carstensen

Es war der 11. Juni 1965, als sich die ehrwürdige Royal Albert Hall in London ins wilde Herz der internationalen Gegenkultur verwandelte. Anlass dafür war ausgerechnet eine Dichterlesung: die legendäre "International Poetry Incarnation".

Über 7000 Besucher waren gekommen, um 17 Lyriker zu hören. Unter ihnen war neben dem berühmten Beat-Poeten Allen Ginsberg auch Adrian Mitchell, dessen Gedicht To Whom It May Concern die amerikanische Politik der Fake-News im Vietnamkrieg bezichtigt.

William S. Burroughs wurde per Tonband eingespielt, und Ernst Jandl war aus Österreich angereist, um sein lautmalerisches Antikriegsgedicht schtzngrmm vorzutragen. Das begeistere Publikum schwelgte in Widerstandsseligkeit und Marihuanaschwaden. Der von Peter Whitehead im Film Wholly Communion verewigte Megaevent einer hochpolitischen performativen Poesie gilt als mythische Keimzelle der britischen Spoken-Poetry-Szene.

Publikationskanäle wandeln sich

Es ist also naheliegend, dass die Anglistin Julia Lajta-Novak ihre Erforschung einer "Poetry off the page" mit diesem sagenhaften Abend des Jahres 1965 beginnt. Sie wagt sich damit in ein noch erstaunlich unbeackertes Feld der Literaturwissenschaft vor. "Bislang geht man in der Forschung implizit immer von Lyrik als gedrucktem Werk aus", so die Wissenschafterin.

"Tatsächlich ist der mündliche Vortrag aber ein ebenso wichtiges Medium der Publikation und Rezeption – man denke nur an literarische Strömungen wie Poetry-Slam, Beat-Poetry oder Jazz-Poetry." Diese performten Gedichte haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur das Gesicht der (britischen) Lyrik verändert, sondern auch die "Infrastruktur" der Literaturszene.

Lajta-Novak geht es in ihrer Forschung neben ästhetischen, semantischen, historischen und biografischen Aspekten deshalb auch um die Erkundung sich wandelnder Publikationskanäle und Präsentationsformate, die von der Spoken-Poetry-Szene genutzt werden. "Von der Live-Performance abgesehen sind Youtube und Co heute die zentralen Medien", berichtet die Wissenschafterin.

Geschichte neu schreiben

"Es gibt Poesie-Performer, die auf die Vermittlungsarbeit herkömmlicher Verlage völlig verzichten und deren Karrieren vor allem auf dem mündlichen Vortrag aufbauen." Eine vollständige Geschichte der britischen Lyrik müsse deshalb auch die Rahmenbedingungen der jeweiligen Performance erfassen.

"Ich möchte diese Geschichte neu schreiben, indem ich das gesprochene Wort, seine Performance-Traditionen, die Mechanismen und Techniken seiner Verbreitung und auch die soziokulturellen Hintergründe seiner Entstehung in den Fokus rücke."

Ein ambitioniertes Vorhaben, für dessen Umsetzung Julia Lajta-Novak kürzlich einen der begehrten Start-Preise erhielt. Der mit 1,2 Millionen Euro dotierte Preis des Wissenschaftsministeriums und des Wissenschaftsfonds FWF ermöglicht es ihr, mit einem Team aus Dissertanten und Postdocs sechs Jahre lang die Grundlagen einer systematischen Lyrik-Performance-Forschung zu legen. So soll eine Art "Werkzeugkasten" für den neuen historisch-literarischen Forschungszweig zur Verfügung stehen, der auch außerhalb des britischen Kontexts genutzt werden kann.

Politisch

1965 waren es übrigens ausschließlich Männer, die mit ihren Gedichten die Royal Albert Hall in einen Hexenkessel verwandelten. "Tatsächlich ist auch die zeitgenössische britische Lyrikszene noch immer sehr männerdominiert", so Lajta-Novak. Der große Vorteil der Spoken Poetry aber sei, dass sie bislang weniger beachteten Gruppen den Weg in die Öffentlichkeit erleichtert. "In der Performanceszene finden Frauen oder schwarze bzw. asiatische Dichterinnen und Dichter ("Black British Poetry") wesentlich mehr Gehör als im herkömmlichen Verlagswesen."

Inhaltlich und formal spaltet sich die aktuelle Spoken-Poetry-Szene in zwei große Gruppen: "Die eine ist dezidiert politisch", erklärt Lajta-Novak. "Diese Lyriker und Lyrikerinnen reagieren sehr schnell auf tagespolitische Themen und behandeln oft auch feministische Inhalte."

Wie erfolgreich diese performte Poesie an den Verlagen vorbei an die Öffentlichkeit gelangen kann, zeigt das Beispiel der Lyrikerin Hollie McNish. Ihr sarkastischer Vortrag über das Unbehagen der Briten beim Anblick einer stillenden Mutter wurde 1,5 Millionen Mal auf Youtube aufgerufen. "Verlage wagen bei neuen Lyrikbänden von solchen Zahlen nicht zu träumen", so die Wissenschafterin.

Avantgardistisch

"Die andere der beiden Gruppen geht in Richtung Sound-Poetry oder Jazz-Poetry und präsentiert sich eher avantgardistisch." Diese experimentellen Performances sind zwar nicht so breitenwirksam, liefern aber höchst kreative Beispiele für die Transformation von Worten in Musik. Was die beiden so unterschiedlichen Richtungen verbindet, ist der Mythos ihrer Geburt in der Royal Albert Hall anno 1965.

Wie tief sich dieser Poesie-Event ins Bewusstsein der Briten eingegraben hat, zeigte sich 2003 bei der größten Anti-Kriegs-Demo der britischen Geschichte. Damals ging es um den Krieg mit dem Irak, und 40 Jahre nach der "Poetry Incarnation" holte man erneut Adrian Mitchell auf die Bühne, um seinen Text vorzutragen. Darin hieß es allerdings nicht mehr "Tell me lies about Vietnam", sondern "Tell me lies about Iraq". (Doris Griesser, 17.7.2020)