Im Gastkommentar erläutert der Historiker Paul Mychalewicz, warum ausgerechnet die Wien-Wahl Türkis-Grün künftig das Regieren erleichtern könnte.

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Mit der Gemeinderatswahl in Wien steht die wichtigste Wahl der nächsten Zeit bevor. Wenngleich es auch eine gewisse Bandbreite bei den jüngsten Umfragen gibt, so ist jedenfalls mit einer massiven Verschiebung der Kräfteverhältnisse gegenüber der letzten Wahl 2015 zu rechnen. Unbestritten scheint ein Absturz der FPÖ von über 30 Prozent auf unter zehn Prozent zu sein. In die andere Richtung geht es offensichtlich bei der ÖVP, die von unter zehn Prozent auf etwa 25 Prozent der Wählerstimmen steigen dürfte. Für die SPÖ ist ein leichter Rückgang, für die Grünen ein deutlicherer Zugewinn zu erwarten. Die möglicherweise entscheidende Frage ist, ob die Liste des ehemaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache fünf Prozent – in Wien ist die Sperrklausel höher als bei Nationalratswahlen – erreicht und damit in den Gemeinderat einzieht oder nicht. Im ersten Fall kann sich Michael Ludwig entspannt zurücklehnen, denn dann ist eine türkis-grün-pinke Stadtregierung praktisch auszuschließen und der amtierende Bürgermeister kann sich den Koalitionspartner nach eigenem Gutdünken aussuchen. Inzwischen werden aber schon Umfragen veröffentlicht, die Strache mehr oder weniger deutlich unter der Sperrklausel sehen.

In diesem Fall liegt der Ball wohl bei den Grünen. Wollen sie weiter mit einer wohl gut abgesicherten Mehrheit mit der SPÖ regieren? Schließlich hatte man bei den Grünen in Wien immer schon mehr Sympathien für die SPÖ als für die ÖVP. Schon ideologisch hätte Rot-Grün die größere Wahrscheinlichkeit.

Türkis-grüner Versuchsballon

Aber die türkis-grüne Bundesregierung kann vielleicht auch diese festgefügte Front aufweichen. War das gemeinsame Eintreten von Birgit Hebein und dem ÖVP-Bezirksvorsteher des ersten Bezirks, Markus Figl, für eine deutliche Einschränkung des Autoverkehrs schon ein Versuchsballon? Um eine türkis-grün-pinke Zusammenarbeit umzusetzen, braucht es aber ebenfalls eine gesicherte Mehrheit. Umfragen, die einen Vorsprung von zwei Prozent für eine solche Dreierkoalition zeigen, lassen ein dementsprechendes Szenario zumindest als möglich erscheinen.

In Deutschland wäre man in so einer Situation nicht besonders zögerlich. Knappe Mehrheiten sind in den Landtagen der Bundesländer unseres großen Nachbarn keine Seltenheit. Ein bemerkenswertes Beispiel liefert gerade der – in der Zwischenzeit auch schon in der österreichischen Öffentlichkeit bekannte – Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet. Der deklarierte Kandidat für den Vorsitz der CDU regiert ein Bundesland, das doppelt so viele Einwohner wie Österreich hat, mit einer Mehrheit von einer Stimme. Schon Konrad Adenauer wurde mit einer Stimme Mehrheit Bundeskanzler.

Indirekte Wahl

Mit der Wahl des Gemeinderats und der Bezirksvertretungen geht in Wien aber noch eine dritte, jedoch indirekte Wahl einher. Da die Gemeinderäte der Bundeshauptstadt auch Landtagsabgeordnete sind, verändert sich damit auch die Zusammensetzung des Bundesrats. Hier steht die größte Verschiebung der Zweiten Republik bevor.

Die FPÖ muss jedenfalls mit einem Verlust von drei ihrer vier Bundesräte rechnen. Umgekehrt sind für die ÖVP, die letztes Mal knapp ihren einzigen Bundesrat verloren hat, bei aller Schwankungsbreite der Umfragen drei Bundesräte praktisch sicher. Für die Grünen besteht die große Chance auf einen zweiten Bundesrat. Dies würde auf Kosten der SPÖ gehen. Aufgrund der Berechnung der Bundesräte nach der Zusammensetzung des Landtags kann man davon ausgehen, dass diese Verschiebung der Bundesräte eintritt, wenn die SPÖ nicht mehr als 41 und die Neos nicht mehr als sieben, die Grünen hingegen zumindest 15 Gemeinderäte erhalten. Die derzeitigen Meinungsumfragen lassen dieses Ergebnis als ziemlich wahrscheinlich erscheinen.

Keine Verzögerungstaktik

Was sind aber die Auswirkung eines solchen Resultats für die Zusammensetzung der Zweiten Kammer des Parlaments insgesamt? Es würde schlicht und einfach die Mehrheitsverhältnisse der Regierungs- und Oppositionsparteien umdrehen. Derzeit stellt die SPÖ 20 und die FPÖ 14, gemeinsam also 34 Bundesräte. Dagegen gehören 23 Bundesräte der ÖVP und vier den Grünen an, gemeinsam somit 27. Die angenommene Verschiebung um vier Mandate brächte den Regierungsparteien damit eine Mehrheit von 31 zu 30. Das ist knapp, sollte aber das Regieren doch leichter machen.

Denn was heißt das für die politische Praxis? Die Oppositionsparteien können damit kein im Nationalrat beschlossenes Gesetz mehr verzögern, wie dies im Mai durch Einspruch mit vier Corona-Gesetzespaketen geschehen ist und wie dies in diesen Tagen durch Ausnützen der dem Bundesrat zustehenden Frist von acht Wochen geschieht. Diese neue, bequeme Situation, die auch durch die Landtagswahlen in Oberösterreich im nächsten Jahr nicht verlorengehen sollte, bringt natürlich auch mehr Verantwortung. Türkis-Grün kann damit nur mehr an sich selbst scheitern. (Paul Mychalewicz, 15.7.2020)