Die bisherigen Schätzungen der Vereinten Nationen gehen von einer Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau aus – Forscher halten jedoch 1,5 für realistischer.

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Nach den Statistiken der Vereinten Nationen leben derzeit knapp 7,8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten, täglich werden es rund 225.000 mehr. Doch die Weltbevölkerung könnte laut einer großangelegten Studie bis 2100 deutlich weniger stark wachsen als bisher angenommen. Ein internationales Forscherteam legt im Medizinfachblatt "The Lancet" dar, dass es bis zum Ende des Jahrhunderts voraussichtlich "nur" 8,8 Milliarden Menschen auf der Erde geben wird – zwei Milliarden weniger als in aktuellen UN-Prognosen erwartet.

Die Geburtenrate in 183 von 195 Ländern werde so weit sinken, dass die Bevölkerungszahl ohne Einwanderung nicht mehr aufrechterhalten werden könne, schreiben die Wissenschafter. Mehr als 20 Länder, darunter Japan, Spanien, Italien und Polen, werden der Studie zufolge bis 2100 die Hälfte ihrer Bevölkerung verlieren. Auch das bevölkerungsreichste Land der Welt, China, werde von aktuell 1,4 Milliarden auf rund 730 Millionen Einwohner schrumpfen.

Wachstum in Subsahara-Afrika

Wachsen werden der Prognose zufolge hingegen Länder in Afrika südlich der Sahara. Nigeria könnte demnach in 80 Jahren mit 800 Millionen Menschen nach Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde werden.

"Wenn Frauen mehr Zugang zu Bildung und Geburtenkontrolle bekommen, entscheiden sie sich im Durchschnitt für weniger als 1,5 Kinder", erklärte der Leiter der Studie, Christopher Murray vom Institut für Gesundheitsmessung und -auswertung (IHME) der Washington-Universität in Seattle, das von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unterstützt wird.

Die Entwicklung sei eine "gute Nachricht" für die Umwelt, sagte Murray, denn eine kleinere Weltbevölkerung könne die Nahrungsmittelproduktion zurückfahren und den Ausstoß von Treibhausgasen senken. Für Länder in Subsahara-Afrika bringt das dort prognostizierte Bevölkerungswachstum nach Ansicht von Murray wirtschaftliche Chancen mit sich. Für die meisten Länder außerhalb von Afrika dürfte die sinkende Zahl an Arbeitskräften aber "tiefgreifende negative Folgen für die Wirtschaft" haben.

Alternde Gesellschaften

So könnte die Zahl der Arbeitskräfte in China beispielsweise von rund 950 Millionen heute auf 350 Millionen im Jahr 2100 sinken – ein Rückgang von 62 Prozent. In Nigeria steige sie hingegen von heute 86 Millionen auf 450 Millionen. Die alternden Gesellschaften müssten daher ihre Sozial- und Gesundheitssysteme reformieren, mahnen die Studienautoren.

Da die Lebenserwartung zudem steige, nehme die Zahl der Menschen, die älter als 80 Jahre sind, von 140 Millionen auf 866 Millionen zu. Mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung werde bis zum Jahrhundertende älter als 65 Jahre alt sein.

Länder mit hohem Einkommen könnten diesen Entwicklungen mit einer flexiblen Einwanderungspolitik und sozialer Unterstützung für Familien mit Kindern begegnen, hieß es in der Studie. Murray warnte davor, dass manche Länder angesichts dieser Prognosen den Zugang zur Geburtenkontrolle beschränken könnten.

Geburtenrate als Machtfaktor

Der wesentliche Faktor, warum die Forscher auf ein deutlich geringeres Wachstum der Weltbevölkerung kommt als die Uno, ist die angenommene Geburtenrate. Während die Vereinten Nationen in ihren Prognosen über das Jahrhundert von einer Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau ausgehen, wird sie laut den Analysen von Murray und seinen Kollegen auf unter 1,5 Kinder pro Frau fallen. Für eine stabile Bevölkerungszahl ist eine Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau nötig.

Für den "Lancet"-Chefredakteur Richard Horton zeigt die Studie eine radikale Verschiebung der geopolitischen Machtverhältnisse. "Am Ende dieses Jahrhunderts wird die Welt eine multipolare sein, in der Indien, Nigeria, China und die USA die wichtigsten Mächte sind." (red, APA, 15.7.2020)