Clubber und Elder Statesman: Jarvis Cocker feiert ein Comeback als JARV IS.

Foto: Rough Trade

Schmale Schultern, spitze Lippen, die Haare von Polster und Schlaf geformt. Die Krawatte ist ein Geschenk von Muttern, das Sakko verbeult. Und dann die Brille, Horn natürlich, das volle Klischee. Mittlerweile kommt noch ein vom Staub des Alters gefärbter Bart hinzu. Selbst ohne Legitimation käme so einer wie er ungehindert in die Jahreskonferenz jeder die Geisteswissenschaften lehrenden Universität dieser Welt. Doch wie der Philosoph Bo Diddley schon lehrte: Man soll Bücher nicht nach ihrem Umschlag beurteilen.

Das gilt auch für Jarvis Cocker. Der das Image des etwas abseits stehenden Nerds pflegende britische Popstar mag zwar auf die 60 zusteuern, zum immer noch aktiven Schalk der frühen Jahre kommt nun noch so etwas wie die Weisheit des Alters hinzu.

Nach gut zehn Jahren veröffentlicht der einstige Vorstand des Sheffielder Pop-Wunders Pulp wieder ein Soloalbum. Es heißt Beyond The Pale und erscheint am Freitag unter dem wie ein Wunschkennzeichen gestalteten Bandnamen JARV IS. Er beschreibt zwar eine ganze Gruppe, gleichzeitig ist klar, wer den Ton angibt.

Ein attraktives Gegenmodell

Während sich in den 1990ern die Bands Oasis und Blur unter Beihilfe einer Ale ins Feuer gießenden Journaille an die Gurgel gingen, überholten Pulp diese Aufrührer rechts beziehungsweise links, es ist ja von England die Rede. Mit distanzierten bis pikierten Beobachtungen aus dem Alltag und den Clubs und den Beutezügen dort – Sex und Drogen – gelang Pulp mit dem Album Different Class ein Welterfolg.

1995 war das, und Pulp mit dem Sänger Cocker waren da schon viele Jahre dabei, aber noch nicht ins Geschäft gekommen. Doch plötzlich war alles anders, und der einstige Kunststudent wurde als schlauer Zyniker ein attraktives Gegenmodell zu den Rüpeln von Oasis und den Schnöseln von Blur – um das stark vereinfacht darzustellen.

Party und Sex

Cocker genoss den Erfolg und gab das Geld mit beiden Händen aus. Er machte die Nächte zum Tag, und das Weiß seiner Augen kam nicht selten vom Produkt der Manufakturen des bolivianischen Dschungels. Er lebte in Paris, machte Party und Sex mit der Schauspielerin Chloë Sevigny, wurde nüchtern, heiratete, wurde Vater und ging nach England zurück.

Rough Trade Records

Er arbeitete als Journalist und besorgte für das BBC Radio ein Sunday Service, während dem er Musik von Steel-Bands wie The Katzenjammers oder Folk von Schneckerl Garfunkel spielte. Ansonsten lebt er das entspannte Leben eines Gelegenheits-Popstars, eines Elder Statesman des Pop.

Diese Zuschreibung besitzt oft den Geschmack der Schienen des Abstellgleises, nicht aber in seinem Fall. Beyond The Pale beginnt mit dem Lied Save The Whale. Da beschreibt er mit dem Satz "tell the truth, fight the power, save the whale" alles, was heute wichtig ist: Lasst euch nicht von Lügnern und Leugnern unterkriegen, bekämpft die Macht der Konzerne, rettet die Welt. Das Ganze kredenzt er im gesetzten Tonfall eines Leonard-Cohen-Schülers. Cohens Album Death Of A Ladies’ Man soll ihm ja einst eine Erleuchtung beschert haben, ein toller Schicksalsschlag.

Eine Art Disco-Gospel

Doch als alter Hedonist biegt er schon im zweiten Song in den Club ab – mit all den Unsicherheiten, die ihn dabei plagen. Zwar kümmert ihn die Jugend nicht, wenn er das Tanzbein schwingt, dennoch spürt er ihre Blicke, weiß, dass über ihm nicht nur die Discokugel, sondern auch das Schwert der Würdelosigkeit hängt: "Must I evolve?", fragt er. "Yes, yes, yes", antworten Serafina Steer und Emma Smith, verdammt.

Jarvis Cocker

Der Song bemüht zwar das Frage-Antwort-Schema des Gospels, erinnert aber gleichzeitig an die hohe Zeit von Pulp. Es ist eines jener von Keyboards und sturen Rhythmen angetriebenen Lieder, denen der Einfluss deutscher Gruppen wie Can oder La Düsseldorf anzuhören ist und die Pulp oder die artverwandten Stereolab so wunderbar in Schwingung versetzen konnten.

Die ewige Versuchung

Das Leben als Club-Hengst thematisiert er in House Music All Night Long noch einmal, unklar ist, ob er das in der Disco oder zu Hause tut. Zitatsicher und anspielungsreich entzieht er sich da einer Festlegung. Spannend ist da das Spiel mit der für ihn typischen Ästhetik und wie er sich davon immer wieder entfernt – aber nie so weit, dass das Gesamtbild leiden würde.

Man kann das meisterhaft nennen und würde nur wenig Widerspruch ernten. Cocker geht in seiner Lebensabschnittsrolle voll auf: "I can resist centrificiation, but I can’t resist temptation", singt er, Lumpi forever. So wie er da bei sich ist, würde man ihm gerne länger zuhören. Möchte man an Beyond The Pale etwas bemängeln, dann den Umstand, dass es nur sieben Songs dauert. Aber gut, diese sind alle eher lang, und ein schlechter ist nicht dabei. So soll es sein. (Karl Fluch, 16.7.2020)