In der Sozialversicherung herrschen raue Sitten. Macht die eine Seite einen Mucks, setzt es von der anderen eine scharfe Replik. Das jüngste Scharmützel lieferten sich die Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern am Sonntag. Die Sozialdemokratin Ingrid Reischl, Vorsitzende im Dachverband der Sozialversicherungsträger, hatte in einem Interview Forderungen ausgebreitet, ihr Vorgänger und ÖVP-Gegenüber Peter Lehner ließ kein gutes Haar daran: "Reine Parteipolitik."

"Gruselig" findet der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer das Schauspiel, das sich seit Monaten regelmäßig aufschaukelt: "Da wird der Klassenkampf in die Managementebene getragen."

Ärztin mit Wattestäbchen für Corona-Test: Die Pandemie stellt nicht nur das medizinische Personal vor große Herausforderungen, sondern macht dem Gesundheitssystem finanziell zu schaffen.
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Es ist kein Nebenschauplatz, an dem das Ringen stattfindet. Zur Debatte steht nichts Geringeres als die Zukunft der Sozialversicherungen, speziell der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), die medizinische Leistungen für 7,2 Millionen Versicherte bezahlt. Die (roten) Arbeitnehmervertreter warnen vor einem gigantischen Finanzloch, das die Gesundheitsversorgung gefährde, die (türkise) Arbeitgeberseite nennt das Panikmache. Wie steht es wirklich um die ÖGK?

Budgetloch wegen der Krise

Eines ist unumstritten: Die Corona-Krise höhlt das Budget der ÖGK aus. Genauso wie die Pensionsversicherung bekommt die Kasse ihr Geld aus Pflichtbeiträgen der Werktätigen, Dienstnehmer und Dienstgeber liefern jeweils 3,78 Prozent eines Angestelltenentgelts ab. Für arbeitslose Menschen zahlt der Staat zwar weiter, doch bemessen sich die Beträge dann am niedrigeren Arbeitslosengeld – die in der Krise weggefallenen Jobs kommen der ÖGK also teuer zu stehen. Dazu kommt, dass die Versicherung den angeschlagenen Unternehmen Stundungen – sprich: Zahlungsaufschub – gewährt hat. Doch niemand weiß, wie viele davon die Rechnung begleichen oder von der befürchteten Pleitewelle im Herbst dahingerafft werden.

Braucht die Gesundheitskasse eine Geldspritze zum Überleben? Arbeitnehmervertreter fordern bis zu eine Milliarde.
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Mit 600 Millionen bis eine Milliarde Euro hat der aktuelle ÖGK-Obmann Andreas Huss, ein Arbeitnehmervertreter, unter üblicher Widerrede der Wirtschaftsseite ("unseriöse Prognose") das Minus für heuer beziffert: Springe der Staat nicht ein, könne die "normale Versorgung" der Versicherten nicht fortgeführt werden.

Ganz so alternativlos sei die Geldspritze des Bundes nicht, relativiert Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Sofern die Wirtschaft, wie vorausgesagt, bald wieder anspringt, könne die Kasse den Fehlbetrag auf die kommenden Jahre erstrecken und Stück für Stück abbauen. Helfen könnte, dass Löhne und Preise als Folge des Konjunktureinbruchs schwächer steigen, sodass die ÖKG bei den Verhandlungen mit den Ärzten und Medikamentenanbietern günstigere Tarife erreicht, sagt der Experte.

Schreckgespenst Selbstbehalt

Aber auch die strengere Bewilligung von Kuren oder anderen Maßnahmen sei eine Möglichkeit. Und dann bleiben noch höhere Selbstbehalte bei Arztbesuchen und anderen medizinischen Angeboten, was auf die berüchtigten Leistungskürzungen hinausläuft. "Doch das ist nicht wünschenswert", fügt Czypionka an.

"Leistungskürzungen werden nicht infrage kommen, denn das hält keine Partei politisch aus", sagt der Beobachter Pichlbauer voraus und verweist auf frühere Rettungsaktionen. In den 2000er-Jahren hatten die Krankenkassen, damals noch nicht zur ÖGK fusioniert, Schulden angehäuft. Die rot-schwarze Regierung schnürte 2008 ein Sanierungspaket, das auf viele hunderte Millionen Zuschuss hinauslief. Obwohl dafür nicht geplant, war das zusätzliche Geld eine Stütze, als kurze Zeit später die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise losbrach.

Vermeintlicher Alarmist gibt Entwarnung

Auch diesmal zeichnet sich ab, dass die Regierung zahlen wird. Im STANDARD-Gespräch gibt ausgerechnet der vermeintliche Alarmist Entwarnung. Er habe mittlerweile wohlwollende Signale erhalten, sagt ÖGK-Obmann Huss und traut sich eine Festlegung zu: "Es wird anlässlich der Corona-Krise ein Kassenpaket geben. Ich rechne damit, dass der ÖGK die Verluste zu einem großen Teil ersetzt werden." Überdies hätten sich bei einem Gespräch beim Gesundheitsminister alle Beteiligten, auch die Vertreter der Wirtschaft, auf einen Grundsatz verständigt: "Es darf zu keinen Leistungskürzungen kommen."

Auf letztere Aussage legt sich auch der Gesundheitsminister fest. "Leistungsreduktionen wird es nicht geben", lässt Rudolf Anschober (Grüne) auf Nachfrage in seinem Büro ausrichten: "Ich bekenne mich zur nachhaltigen finanziellen Absicherung der hohen Qualität unseres Gesundheitssystems."

Wie die Regierung dabei genau helfen will, verrät der Ressortchef nicht. Erst müsse die für Mitte August angekündigte neue Prognose über die finanzielle Situation der ÖGK vorliegen, dann werde es Gespräche und Entscheidungen geben. Die Regierung könnte etwa auch verlangen, dass die ÖGK ihre Rücklagen auflöst. Laut Huss betragen diese 1,2 Milliarden, die Hälfte davon könnte flüssiggemacht werden.

ÖGK-Obmann Huss will sich keine Panikmache nachsagen lassen: Die Resonanz sei umso größer, "je mehr man trommelt".
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Haben die Arbeitnehmervertreter mit ihrer Warnung vor dem Zusammenbruch der Versorgung also doch Panikmache betrieben? Er habe ein Zeichen gesetzt, sagt Huss: Die Resonanz sei umso größer, "je mehr man trommelt".

Vorwurf der Eigenmächtigkeit

Die Kontrahenten lassen diese Argumentation nicht gelten. Wichtigste Aufgabe der Institution sei, für Sicherheit zu sorgen, sagt Lehner, neben seiner Funktion im Dachverband Obmann der Sozialversicherung der Selbstständigen: Huss habe hingegen verunsichert. Außerdem habe sich dieser mit den Arbeitgebervertretern im Verwaltungsrat abzusprechen, eher er in seiner Funktion mit Positionen vorpresche.

Arbeitgebervertreter Lehner wirft der Arbeitnehmerseite Verunsicherung vor: "Die SPÖ versucht die Reform nun von innen zu bekämpfen."
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Ob Lehner nicht ebenso eigenmächtig agiert habe, als er im Frühjahr dem Plan eine Absage erteilte, die schlechteren Leistungen der ÖGK-Versicherten an jene der Selbstständigen und Beamten anzupassen? "Ich habe damals nur die gesetzliche Grundlage, die ein berufsständisches System vorsieht, verteidigt," argumentiert der Angesprochene.

Die Hitzigkeit der Debatte erklärt sich aus der Vorgeschichte. Bei der Fusion der früher 21 Sozialversicherungsträger auf fünf hat die türkis-blaue Regierung die Macht unter wütendem Protest der Gewerkschafter zu den Wirtschaftsvertretern verschoben. Die beiden Lager lösen sich turnusmäßig sowohl an der Spitze des Hauptverbands als auch an der Spitze der ÖGK ab, doch von Kooperation ist wenig zu merken. "Die SPÖ versucht die Reform nun von innen zu bekämpfen", sagt der türkise Lehner. Der rote Huss urteilt anders. Die Wirtschaftsvertreter hätten die Sozialpartnerschaft aufgekündigt: "Weil sie von der Regierung ohnehin alles kriegen."

Der türkis-blaue Rucksack

Finanzielle Dimension des Streits: Die alte Regierung habe der ÖGK einen "Rucksack" an Kosten umgehängt, klagen die Arbeitnehmervertreter und meinen damit eine Reihe umstrittener Beschlüsse, die sich laut roter Rechnung bis 2024 mit insgesamt 724 Millionen zu Buche schlagen sollten.

Der größte Brocken sind die geringeren Kompensationen der Allgemeinen Unfallversicherung (AUVA) an die ÖGK für in normalen Spitälern behandelte Unfallopfer – für Schlagzeilen sorgt jedoch ein kleinerer Posten. Auf fünf Jahre gerechnet soll die ÖGK um 55 Millionen mehr für in Privatspitälern erbrachte Leistungen zahlen – unter anderem, weil eine Klinik in Wien-Währing neu in den Kreis der Begünstigten des Privatkrankenanstaltenfonds gekommen war. Da sich Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache für ebenjene Klinik eingesetzt hat, nimmt der U-Ausschuss im Oktober die Vorgänge unter die Lupe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob Korruption im Spiel war.

Die Regierung begibt sich also auf ein politisches Minenfeld, wenn sie die Verhandlungen über das Kassendefizit aufnimmt. Im Gesundheitsbereich werde es nicht bei diesem einen Kampf um Millionen bleiben, prophezeit Czypionka. Weil die Ausfälle der Sozialversicherung die Länder in den von ihnen betriebenen Spitälern auf Mehrkosten sitzen bleiben lässt, werden diese ebenfalls beim Bund um Geld anklopfen, glaubt der Experte: "Das wird das ganz große Match." (Gerald John, 16.7.2020)