Achtung, in dieser Figur kochen etliche unabgegoltene Gefühle: Eva-Maria Schaller brilliert in "What we hold inside".

Foto: Kilian Immervoll

Wer beispielsweise die Wiener "Seestadt" doch oder noch einmal kennenlernen will, kann die Gelegenheit jetzt beim Kultursommer Wien nutzen. Und sich davon überzeugen, dass diese urbane Satellitenanlage mit dem Flair von Legoland sicher mehr Charme hat als das städteplanerische Desaster der Industriehölle von Simmering. Eine ausgiebige Fahrt mit der U-Bahn, an deren Ende ein eleganter Schwenk durch Wüstengelände wartet, führt zu einem Ort, an dem sich jedes Gefühl, in einer Großstadt zu leben, verlässlich verliert.

Kuratorischer Klimawandel

Dort und an 24 anderen Freiluft-Locations hat vergangenen Donnerstag eine Art Feuerwehr-Initiative der Stadt Wien begonnen: ein Festival fürs darbende Publikum und zugunsten der lokalen Künstlergemeinde, die unter den epidemiebedingten Einschränkungen leiden. Und weil die Wiener da und dort so tun, als gäb’s eigentlich kein Virus – kaum jemand hält Abstandsregeln ein oder trägt Maske –, war es klug, die meisten Aufführungsorte so zu platzieren, dass möglichst kein Gedränge entsteht. Die Veranstaltungen sind jedenfalls bei bestmöglichen Sicherheitsvorgaben zu genießen, auch jene, die Tanz und Performance zeigen. Am ersten Wochenende waren Frans Poelstra mit Oleg Soulimenko und Eva-Maria Schaller die Eröffnungs-Acts in diesem Genre – und siehe da, beide Arbeiten boten Anzeichen eines temporären kuratorischen Klimawandels. Poelstra und Soulimenko brillierten als Performancekünstler mit Made In Home am Seestädter Hannah-Arendt-Platz. Die Choreografin Schaller präsentierte in der Penzinger Muthsamgasse ein hinreißendes Solo: What we hold inside.

Selbstironie und Unverfrorenheit

In letzter Zeit war die Wiener Tanzszene etwas eintönig geworden. Allzu sehr hatten sich die Szene-Präsentationsorte Tanzquartier, Brut-Theater und Wuk einander angenähert. Dadurch begann die Vielfalt von Performance und Tanz in Wien wie unter einem Verdrängungswettbewerb zu leiden. Dieser macht jetzt Pause. Die beiden Aufführungen zu Beginn des Kultursommers deuten bereits auf Ausgleich hin.

Poelstra (66) und Soulimenko (60) zeigen mit ihrem formalen Minimalismus und ihrer Leidenschaft für spontane Improvisation, dass sie vom Avantgarde-Hintergrund der 1960er herkommen. Die aus Holland respektive Russland stammenden Wiener brauchen nicht viel, um auf kleiner Bühne unter dem Sommerhimmel ihren weiten Horizont sichtbar zu machen. Ein paar Instrumente und allerlei Zeug, aus dem eine Skulptur gezimmert wird, Gesang, Selbstironie und Unverfrorenheit reichen für eine Performance, die sogar bei den Kindern unter dem Publikum für Erstaunen sorgt.

Phettberg steht ins Haus

Eva-Maria Schaller (35) tanzt, was im Inneren ihrer fiktiven Figur vorgeht. Diese sieht aus – schwarzes Top, sandfarbene Hose, strenge Frisur –, als wäre sie gerade einem Büro entlaufen und hätte unterwegs ihre Schuhe weggeworfen. Emotionen, Erinnerungen und Konflikte, die im Alltagsverhalten verborgen bleiben, scheinen Körper und Mimik der Figur auf der Bühne zu übernehmen. Mit What we hold inside führt Schaller das Unheimliche dieser Gestalt vor, in der etwas zu brodeln scheint. Exzellenter Tanz zu Sounds von Manuel Riegler.

So wird beim Kultursommer weitergetanzt: Am Donnerstag verschmilzt Doris Uhlich mit Falco zu DJ Falcoris und stellt die Urban-Dance-Company Hungry Sharks das Stück 1.618 – Young Sharks vor. Am Freitag präsentiert die Choreografin Anne Juren In Treatment, am Samstag spielt’s eine Avantgarde Text Performance von Jack Hauser mit David Ender und Anne Cotten mit Judith Nika Pfeifer. Außerdem gibt es jede Menge Musik, Kabarett und Workshops, sogar Hermes Phettberg müht sich an die Öffentlichkeit, und auch für Youngsters ist einiges dabei. (Helmut Ploebst, 16.7.2020)