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Alcides Ghiggia schoss Uruguay zum Coupe Jules Rimet.

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Den Nachfolger des Coupe Jules Rimet hielt er 2014 in Händen. Auf den Tag genau 65 Jahre nach dem Sieg starb der Mann aus Montevideo als letzter der Weltmeister.

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Je trister die Gegenwart, desto glorreicher erscheint die Vergangenheit. Dieser Tage können die Brasilianer aber nicht einmal in Gedanken an die geliebte Seleção dem Schrecken der Pandemie entkommen. Denn am Donnerstag jährt sich zum 70. Mal, was selbst jenen, die seinerzeit noch nicht einmal ein sündiger Gedanke ihrer Eltern waren, als Maracanaço geläufig ist: das gegen Uruguay verlorene finale Spiel der Heim-WM 1950 vor rund 200.000 Zusehern im Maracanã-Stadion zu Rio de Janeiro. Eine vergleichbare Sensation erlebte der Weltfußball erst im Sommer 2004 wieder, als Otto Rehhagels Griechen gegen Gastgeber Portugal durch ein 1:0 Europameister wurden.

Tiefschlag mit besonderer Wirkung

Freilich hatte die Pleite gegen "Rehhakles" Halbgötter auf Portugal nicht annähernd die Wirkung des 1:2 gegen Uruguay am 16. Juli 1950 auf das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas. Der letzte Torschütze des denkwürdigen Matches, der 2015 just am 65. Jahrestag seines größten Triumphes mit 88 Jahren gestorbene Alcides Ghiggia, beschrieb die Wirkung seines Tiefschlags gern in einem Satz: "Nur drei Personen brachten das Maracanã zum Schweigen: Papst Johannes Paul II., Frank Sinatra und ich."

Schließlich galt vor dem Match die Niederlage der Celeste, die seit ihrem WM-Titel 1930 deutlich an Glanz verloren hatte, als unabwendbar. Brasilien hatte in der Vierer-Finalrunde Schweden (7:1) und Spanien (6:1) abgefertigt, Uruguay sich mit einem Remis gegen die Iberer (2:2) und nur dank zweier später Treffer gegen die Skandinavier (3:2) mit Ach und Weh eine theoretische Chance auf den Titel bewahrt.

Und so strömten zum aufgrund des Terminkalenders plötzlich finalen Duell offiziell 173.850 Zuschauer plus zigtausende ungezählter Fans in die exakt einen Monat zuvor eingeweihte, futuristisch anmutende Betonschüssel. Viele hielten die Abendausgabe der A Noite in der Hand, mit einem Mannschaftsfoto der Seleção und dem Titel: "Das sind die Weltmeister" auf Seite eins. Das Risiko, damit eine Ente produziert zu haben, schien vernachlässigbar.

Ghiggias Moment

Rios Bürgermeister Mendes de Morais begrüßte die Auswahl von Coach Flávio Costa "als Sieger". Selbst ein Remis hätte zum Glück des modernen Brasilien gereicht, dessen Sinnbild das in kaum zwei Jahren erbaute, größte Stadion der Welt war. Als Ghiggia aber elf Minuten vor Spielende in den Strafraum zog und mit seinem Schuss die Lücke zwischen der kurzen Stange und dem Handschuh von Goalie Barbosa fand, lag zwar nicht Maracanã, aber der Traum der Nation in Trümmern.

Jules Rimet, der Präsident des Fußballweltverbandes Fifa, erinnerte sich in seinen Memoiren an das trostlose Schweigen im Oval. "Keine Ehrengarde, keine Nationalhymne, keine Rede, keine feierliche Pokalübergabe", schrieb der Franzose. Verteidiger Bigode, den der kleine Penarol-Stürmer Ghiggia vor seinem Tor düpiert hatte, und Torhüter Barbosa, bis zum letzten Akt einer der überragenden Spieler des Turniers, wurden zu Sündenböcken.

Barbosa beklagte 30 Jahre später, dass er nach brasilianischem Recht als Mörder seine Haftstrafe längst verbüßt hätte, aber er sich noch immer wie eingekerkert fühle. Noch 1993 verwies ein Funktionär den Mann aus Campinas vor einem WM-Qualifikationsspiel zwischen Brasilien und Uruguay des Maracanã, weil der Ehemalige nur Pech bringe.

Brasilien besiegte Uruguay an diesem Tag ebenso (2:0) wie vier Jahre zuvor am selben Ort und am Tag genau 49 Jahre nach dem Maracanaço im Finale der Copa América (1:0). Die Tore schoss jeweils Romário.

Positive Bilanz

Die ballesterische Bilanz des Riesen gegen den in der Pandemie übrigens bisher vorbildlichen Zwerg vom Río de la Plata ist mit 36 Siegen bei je 20 Unentschieden und Niederlagen eindeutig positiv. Auf dem Rasen hat Brasilien die Schmach überwunden, abgestreift wie das damalige weiße Trikot, das in der Folgezeit durch das heutige gelbe ersetzt wurde. Acht Jahre später kam in Schweden der erste WM-Titel von Pelés Gnaden, dem noch vier folgten. Uruguay spielte nie wieder ein WM-Finale. Platz vier 2010 war für die Celeste das höchste der Gefühle.

In Südafrika ging das kleine Finale an jene Deutsche verloren, die vier Jahre später Brasilien den Mineirazo bescherten – das 1:7 im Halbfinale der Heim-WM im Mineirao-Stadion zu Belo Horizonte. Dieses Desaster hatte die Nation wenigstens nicht völlig unvorbereitet getroffen. (Sigi Lützow, 15.7.2020)