Fühlte sich durch Bertolt Brechts "Dreigroschenroman" dazu angehalten, über Hitler und die Ästhetisierung der Politik nachzudenken: Walter Benjamin (1892–1940).

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Ausgerechnet Walter Benjamins ahnungsvollster Einlassung auf den Dichter Brecht blieb eine Wirkung zu Lebzeiten verwehrt. Die Rezension von Bertolt Brechts Dreigroschenroman – Erscheinungsjahr 1934 – entstand im Auftrag von Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung.

Doch Benjamins funkelnder Essay, ein gesellschaftlicher Traktat in sieben Kapitelüberschriften, sprengt jede Vorstellung davon, was Tagespublizistik leisten kann und soll. Prompt entzündete sich an der Frage, wie Benjamins Arbeitsleistung vergütet werden könnte, ein hässlicher Streit unter Heimatlosen. Klaus Mann bot 150 Francs an. Ohne zu zögern, klassifizierte Benjamin das Angebot als "Frechheit". Er setzte das Limit bei "250 fr frcs" und erhielt daraufhin das schon gesetzte zwölfseitige Manuskript unverzüglich retourniert.

Die ganze abgründige Verzweiflung des Exilanten Benjamin wird in einer Briefstelle deutlich, gerichtet an den Freund Gershom Scholem: "Ich habe mich für dieses Leben nicht klug genug erwiesen (sic!) und das an einem Punkt, an welchem Klugheit mir viel wert gewesen wäre."

Von der Frage der Verwertbarkeit handelt insbesondere auch der Brecht-Essay: Gerade einmal acht Jahre liegen zwischen Dreigroschenoper und Dreigroschenroman. Der Welterfolg der Ersteren bildete fortan das materielle Unterpfand Brechts für die mageren Jahre im Exil. Der Machtergreifung der Nazis 1933 hatten Brecht und Co ihrerseits Tribut gezollt; die Untaten der Nationalsozialisten beim Namen genannt, "ihren Opfern ein Licht aufgesteckt".

Kalkulierte Satire

Dem wirtschaftlichen und politischen Grauen begegnet Brecht kalkuliert satirisch. In einer Art Charles-Dickens-London hatten die Haifische früher bekanntlich Zähne. Doch die Zeiten überlagern sich. Wenig gemahnt noch an die Oper. "Diese Londoner", schreibt Benjamin mit Blick auf den druckfrischen Roman, "haben kein Telephon, aber ihre Polizei hat schon Tanks."

Die Barbarei der Ausbeuter findet erst spät zu jener Drastik, die das Elend der Ausgebeuteten schon zu Beginn des Kapitalismus kennzeichnet. Will heißen: Die Zähne fletscht, wer sich anders als mit Gewalt nicht mehr zu helfen weiß. Man mag Benjamins Hochschätzung von Brechts Maskerade heute zurückweisen: Er stellte den Dreigroschenroman immerhin Dostojewski und Cervantes an die Seite und fühlte sich an Jonathan Swift erinnert.

Gewiss, da unternehmen Bettlerkönige Geschäfte mit Truppentransportern, die mitsamt ihrer menschlichen Fracht in der Themse-Mündung zerschellen. Sogar Ex-Ganoven wie Macheath (der berühmte Mackie Messer!) sind plötzlich ehrbar geworden und unterhalten Ladenkonzerne.

Brechts Schema ist erbarmungslos: Wer sich der ökonomischen Ordnung nicht fügt, der muss ins Wasser gehen. Verbrechen sind eine schlimme Sache, doch man sollte sie auch nicht allzu persönlich nehmen. Walter Benjamin kann nicht anders, als in der faschistischen Machtübernahme die Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung zu sehen. Hinter jedem Macheath (alias Hitler) stehen ursächlich Verwertungsprobleme. In solchen Krisenzeiten haben Worte staatsmännischen, Taten hingegen kaufmännischen Einschlag. Benjamin gelingen in Ansehung von Brechts Ästhetik Sätze von funkelnder Pracht: "Aber wie man von einer Balletteuse nicht nur verlangt, dass sie tanzen kann, sondern auch, dass sie hübsch ist, so verlangt der Faschismus nicht nur einen Retter des Kapitals, sondern auch, dass dieser ein Edelmensch ist."

Zwanglose Übergänge

Über das Unmenschentum Hitlers konnte bereits 1934 nicht der geringste Zweifel bestehen, gleich ob man in Paris (Benjamin) oder Svendborg (Brecht) weilte. Benjamin entnimmt dem Dreigroschenroman seines Freundes eine Art Nutzanwendung. Nicht das Ethos der Wahrung von Sitte und Anstand dominiert einen "Krimi" wie dieses höhnische Buch. Satire stellt das Verhältnis zwischen bürgerlicher Rechtsordnung und Verbrechen auf die einzig "sachgemäße" Weise dar: Zwischen den beiden ergeben sich hin und wieder "zwanglose Übergänge".

Politik? Wäre unter solchen Voraussetzungen auch nichts anderes als die Fortsetzung der Ökonomie (und ihrer verbrecherischen Auswüchse) mit anderen Mitteln.

An der Stelle, wo sonst der Detektiv aufzutreten pflegt, die Pfeife im Mund, obwaltet nichts als der reine Mechanismus: die Konkurrenz, die im "Gentlemen’s Agreement" ihre endgültige Berichtigung erfährt. Die Beute wird untereinander aufgeteilt. Dazu benötigt man aber "Führernaturen" wie Macheath. Parteipolitiker alten Zuschnitts? Haben ausgedient. Macheath sagt: "Wir brauchen Männer, die über den Parteien stehen, so wie wir Geschäftsleute." Parteilichkeit ist etwas für Menschen, die von der Funktionsweise der Wirtschaft nicht die geringste Ahnung haben.

So blieb Benjamin, unter Brechts Einfluss stehend, mit den Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht nur vorläufig unversöhnt.

Was er durch Buchlektüren wie diejenige Brechts über die Ästhetisierung der Politik lernte, fand schließlich in seinen berühmten Kunstwerk-Aufsatz Eingang. (Ronald Pohl, 17.7.2020)