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Foto: REUTERS/Hannah McKay/File Photo

Großbritannien hat am Donnerstag Russland gleich zweimal öffentlich der Cyberspionage bezichtigt. Moskaus Geheimdienste seien aktiv bei der Bespitzelung von Wissenschaftern, die einen Corona-Impfstoff entwickeln, teilte Außenminister Dominic Raab in London mit. Kurz zuvor hatte der Minister "russische Akteure" der versuchten Einflussnahme auf die Unterhauswahl 2019 beschuldigt. Die Stellungnahmen kamen am gleichen Tag, an dem das Geheimdienst-Kontrollgremium des britischen Parlaments für kommende Woche die lange verzögerte Veröffentlichung eines Berichts ankündigte, der angeblicher russischer Einmischung ins Brexit-Referendum nachging.

Die Cyberangriffe von "APT 29, Cozy Bear und The Dukes" auf Corona-Wissenschafter seien verantwortungslos und völlig inakzeptabel, betonte Raab. Offenbar wurde dabei Malware mit dem Namen "WellMess" und "WellMail" verwendet. Die zuständige Spionage-Abwehrbehörde NCSC bezifferte die Wahrscheinlichkeit, dass APT29 Teil des russischen Geheimdienst-Apparats sei, auf "95 plus Prozent".

Dokumente online gestellt

Ziel der Angriffe seien Einrichtungen der medizinischen Forschung und Entwicklung gewesen. Man sei sich "zu 80 bis 90 Prozent" sicher, dass es dabei um einen Covid-Impfstoff ging. Diese Einschätzung werde von den entsprechenden Behörden Kanadas sowie der USA geteilt.

Was die Einflussnahme auf die Wahl im vergangenen Dezember angeht, sprach der Minister von "russischen Akteuren", vermied also die direkte Beschuldigung der der Führung in Moskau. Eine noch andauernde Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörde habe ergeben, so Raab: "Illegal bezogene Regierungsdokumente wurden online verbreitet."

Russland teilte mit, schon der Vorwurf sei eine unfreundliche Handlung. Man werde darauf reagieren, so die staatliche Nachrichtenagentur Tass, die sich auf die russische Botschaft in London beruft. Das Außenamt hatte die Vorwürfe schon zuvor als widersprüchlich und unklar bezeichnet.

NHS-Ausverkauf

Die Vorwürfe beziehen sich auf eine Episode im Wahlkampf. Der damalige Oppositionsführer Jeremy Corbyn hatte unter Hinweis auf die Website Reddit Unterlagen aus den Verhandlungen über einen Handelsvertrag zwischen Großbritannien und den USA an die Öffentlichkeit gebracht. Die Brexit-Regierung Boris Johnsons plane den Ausverkauf des Nationalen Gesundheitssystems NHS an US-Unternehmen, behauptete der Labour-Vorsitzende – eine brisante Anschuldigung in einem Land, das sich viel auf die allgemeine Gesundheitsversorgung zugutehält.

Reddit sprach damals von einer "Kampagne, deren Ursprung offenbar in Russland liegt". Corbyns Vorstoß änderte nichts am Wahlergebnis: Johnsons Konservative Partei wurde im Amt bestätigt.

Dass Vizepremier Raab die beiden grundsätzlich bekannten Sachverhalte am Donnerstag aufs Tapet brachte, dürfte mit einer empfindlichen Niederlage der Regierung tags zuvor zu tun haben. Nach monatelangem Gerangel war erstmals seit der Wahl im Dezember der parlamentarische Geheimdienst-Kontrollausschuss zusammengetreten. Das Gremium mit konservativer Mehrheit sollte auf Wunsch der Downing Street den früheren Justiz- und Verkehrsminister Christopher Grayling zum Vorsitzenden wählen; eine SMS des Fraktionseinpeitschers wies die fünf Torys darauf hin.

Stattdessen kürten die vier Oppositionsvertreter den konservativen Rüstungsexperten und früheren Leiter des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, Julian Lewis, zum neuen Chef des Kontrollgremiums. (Sebastian Borger aus London, 16.7.2020)