Im Gastkommentar hält der Ökonom Kurt Bayer den Weg der "Geizigen Vier" für einen Irrweg. Es brauche eine neue Wirtschaftspolitik, auch vor dem Hintergrund der Klimakrise.

Die Nettozahlerallianz von Rutte und Kurz ist noch nicht zerfallen. EU-Ratsvorsitzende Merkel muss auf dem EU-Sondergipfel vermitteln.
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Der EU-Gipfel an diesem Wochenende soll neben dem Siebenjahresbudget vor allem den EU Recovery Fund fixieren: Im Kommissionsvorschlag von 750 Milliarden Euro sollen für die von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Länder 500 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse und 250 Milliarden Euro als Kredite bereitgestellt werden. Es ist klar, dass dieses Geld für das Gesundheitswesen, grüne Investitionen und die Wiederbelebung der durch den Lockdown auf die Knie gebrachten Wirtschaft dienen soll. Die deutsche Kanzlerin und derzeitige EU-Ratsvorsitzende Angela Merkel hat gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen ähnlichen, wenn auch "nur" 500 Milliarden Euro umfassenden Vorschlag gemacht.

Tiefe Rezession

Die Zeit drängt, denn die Wirtschaft in der Europäischen Union befindet sich in einer tiefen Rezession: Ein Rückgang von mehr als sieben Prozent im Jahr ist vorhergesagt, im zweiten Quartal waren Einbrüche bis zu 20 Prozent zu verzeichnen, einzelne Länder sollen gar tiefe Rezessionen von elf Prozent und mehr erleiden. Die Arbeitslosenzahlen mit oder ohne Kurzarbeit haben nie zuvor gesehene Ausmaße erreicht. Die einzelnen EU-Staaten haben signifikante Konjunkturprogramme versprochen, jedoch fallen diese in den bereits vorher hoch verschuldeten Ländern mangels "fiscal space" zu gering aus. Letztere benötigen dringend die EU-Zuschüsse.

Sparsame Italiener

Die "frugal four", von ihnen selbst falsch übersetzt als "sparsam" – was in vielen Ländern einen positiven Spin hat –, wollen keine Zuschüsse, sondern nur Kredite vergeben, und auch diese nur, wenn die Länder, die diese erhalten, "tiefgreifende Reformen machen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken" (Premier Mark Rutte). Aber wie soll ein Land wie Italien, das mehr als 130 Prozent Schuldenquote hat, deutlich höhere Zinsen dafür zahlt als Österreich (für zehnjährige Staatsanleihen 1,28 Prozent, Österreich bekommt von den Banken 0,20 Prozent!), aber dennoch im Gegensatz zu Österreich ohne seine Zinszahlungen seit vielen Jahren Budgetüberschüsse macht, weitere Schulden aufnehmen und, um die Zinsen zahlen zu können, andere Staatsausgaben, etwa im maroden Gesundheits- oder Schulsystem, kürzen?

Weigern sich die Finanzmärkte, das zu finanzieren, zerbricht die Eurozone und möglicherweise die EU. Deswegen also bestehen Deutschland und andere EU-Länder auf Zuschüssen: Diese Länder können sich weitere Kredite einfach nicht leisten.

Krise verschärfen

Nun zur Frage der "tiefgreifenden Reformen". Mark Rutte, Sebastian Kurz und die anderen Geizigen wollen nicht einsehen, dass die geforderte Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Reduzierung der Pensionsausgaben und Beamtengehälter bei einem für die Südländer überteuerten Euro-Wechselkurs die falsche Wirtschaftspolitik ist. Sie wollen nicht einsehen, dass die neoliberale, auf Budgetkonsolidierung aufgebaute Wirtschaftspolitik der EU uns schon vor Corona in eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere gebracht hat. Schon damals gab es Appelle zur Lohnzurückhaltung, die Schwächung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner, wodurch die Einkommen der untersten Einkommensschichten seit Jahrzehnten gefallen sind, und die Tendenz, dass viele Vollzeitarbeiterinnen und -arbeiter nicht mehr genug zum Leben verdienen – und in der Folge den rechten Vereinfachern und Populisten in die Arme laufen, die erst recht die Wirtschaftsmisere verstärken.

Die Geizhälse wollen nicht verstehen, dass die alte EU-Wirtschaftspolitik, zu der sie mit ihren "Reformen" zurückwollen, die Klimakrise mitverursacht hat. Es sind auch diese Politiker, die von einer weiteren Austeritätspolitik nach Corona träumen, mit der sie die wirtschaftliche, ökologische, gesellschaftliche und politische Krise weiter verschärfen sowie den Zerfall der EU riskieren.

Neue Wirtschaftspolitik

Es muss um eine neue Wirtschaftspolitik gehen, die Beschäftigung, gerechte Löhne, gute Arbeitsbedingungen, Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften fördert. Zwar sind auch die Vorschläge der EU-Kommission und von Macron und Merkel nur Trippelschritte auf dem Weg dahin – aber sie erkennen zumindest, dass die alte Politik schon vor Corona defekt war. Corona hat zwar kurzfristig die Klimabelastungen verringert, jedoch die soziale Krise massiv verstärkt.

Österreichs Kanzler muss sich beim EU-Gipfel für die ökonomische und ökologische Vernunft, für Solidarität und für Europa einsetzen. Ein Beharren auf dem Frugal-Fetischismus ist nicht angemessen. (Kurt Bayer, 17.7.2020)