Äthiopiens "Grand Ethiopian Renaissance Dam" soll ein Reservoir dreimal so groß wie der Bodensee mit Nilwasser füllen.

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Schwillt er oder schwillt er nicht? Eine Frage, die zur Zeit die Welt in Atem hält – zumindest was den am Blauen Nil gelegenen Teil der Welt angeht. Jüngste Satellitenbilder vom fast fertigen größten Staudamm Afrikas, dem "Grand Ethiopian Renaissance Dam" (Gerd), belegen, dass das Wasser dort steigt: Für die ägyptische und sudanesische Regierung der Beweis dafür, dass Äthiopien mit dem Aufstauen des Blauen Nils bereits eigenwillig begonnen hat – obwohl es zwischen den Anrainerstaaten noch immer kein Abkommen über die Verwendung des Blauer-Nil-Wassers gibt.

Seit Beginn der Bauarbeiten am größten Elektrizitätsprojekt des Kontinents vor fast zehn Jahren ringen vor allem die Regierungen in Kairo und Addis Abeba um eine Vereinbarung über die Wassermenge, die Äthiopien weiterfließen lassen muss, um das Lebenselixier der Ägypter nicht zu gefährden. Anfang dieser Woche scheiterte jedoch ein weiterer Versuch – in diesem Fall der Afrikanischen Union –, eine Einigung zu erzielen. Während Addis Abeba nie einen Zweifel daran ließ, mit dem Aufstauen des Flusses auch ohne Einigung zu beginnen, hielt sich Kairo sogar die Option eines militärischen Eingreifens offen. Droht am Horn von Afrika Krieg?

Zumindest Fachleute wissen, dass Äthiopien gegen das Aufstauen des Wassers gar nichts ausrichten kann.

Keine Schotten dichtgemacht

Das liegt am Beginn der Regenzeit: Derzeit fließt mehr Wasser aus dem Hochland an, als durch die beiden neben dem Staudamm offengelassenen Kanäle abfließen kann. Addis Abeba hat also die Schotten noch nicht dichtgemacht: Noch fließt auch genügend Wasser nach Ägypten, um den Nachfahren der Pharaonen nicht das Dasein zu gefährden. Allerdings will Äthiopien tatsächlich die Schleusen noch in diesem Monat ein wenig schließen, um das Auffüllen des schließlich 74 Milliarden Kubikmeter Wasser fassenden Reservoirs zu beschleunigen. Nach etwa sieben Jahren soll es voll sein.

Unverantwortlich will Addis Abeba dabei allerdings nicht vorgehen. Das Auffüllen soll nur in der Regenzeit stattfinden: Die Entnahme von 18 Milliarden Kubikmetern Wasser im Verlauf der ersten zwei Jahre wirke sich bei einem Durchfluss von insgesamt fast 100 Milliarden für die flussabwärts gelegenen Staaten keineswegs lebensbedrohlich aus. Sie könnten auch ihre prall gefüllten eigenen Stauseen zur Regulierung etwaiger Engpässe nutzen. Hinzu käme, dass Meteorologen für die kommenden zwei Jahre überdurchschnittlich starke Niederschläge am Horn von Afrika voraussagten: Für das Auffüllen des Reservoirs gebe es gar keine bessere Zeit, heißt es in Addis Abeba.

90 Prozent der Streitpunkte der beiden Nil-Anrainerstaaten seien bereits ausgeräumt, gab der sudanesische Chefunterhändler jüngst bekannt: Strittig sei dagegen noch, was im Fall einer jahrelangen Dürre passieren wird und ob Ägypten eine Mindestmenge an Nilwasser garantiert werden soll. Äthiopien fürchtet, dass in Dürrejahren die Stromgewinnung eingestellt werden muss: Dann würden bei über der Hälfte der Bevölkerung die Lichter wieder ausgehen und müsste der Staat auf seine Einnahmen aus dem Stromexport verzichten.

Abiy lässt Muskeln spielen

Äthiopien, das sich in einem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung befindet, fühlt sich in Sachen Nilwasser schon seit ewigen Zeiten schikaniert: Im vergangenen Jahrhundert hatte die britische Kolonialmacht den Ägyptern gleich in zwei internationalen Abkommen ein "natürliches und historisches Recht auf das Nilwasser" zugesprochen. Äthiopien hatte damals keiner gefällt.

Nun lässt Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed die Muskeln spielen. Am günstigeren Ende des 1500 Kilometer langen Fluss gelegen, will sich das afrikanische Äthiopien nicht länger vom arabischen Ägypten die Nilwassernutzung diktieren lassen. Auch muss der umstrittene Premierminister seiner unruhigen Bevölkerung einen politischen Triumph präsentieren. Andernfalls könnte der Friedensnobelpreisträger nach den Wahlen im kommenden Jahr bereits wieder Geschichte sein. Umgekehrt glaubt auch Ägyptens Abdel Fattah al-Sisi, sich keine Schwäche leisten zu können: Die Hürden für eine Einigung sind also hoch.

Beobachter der holprigen Gespräche gehen trotzdem davon aus, dass auch für die strittigen 10 Prozent noch eine Einigung gefunden wird. Beide Seiten seien sich dessen bewusst, dass ein anhaltender oder gar militärischer Konflikt vermieden werden muss, heißt es bei der International Crisis Group in Brüssel. Selbst wenn die Schleusen der Umleitungskanäle bald etwas geschlossen werden sollten: An einer Verständigung der beiden Anrainerstaaten führt kein Weg, geschweige denn ein Wasserweg vorbei. (Johannes Dieterich, 16.7.2020)