Toni Morrison, geb. 1931 in Lorain, Ohio, wurde 1993 als erster afroamerikanischer Autorin der Literaturnobelpreis verliehen.

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Voriges Jahr wurde ich von einer Kollegin gefragt, wo ich in meiner Kindheit zur Schule gegangen sei. In Lorain, Ohio, antwortete ich ihr. Sie erkundigte sich weiter: War die Rassentrennung an euren Schulen da schon aufgehoben? Wie bitte?, erwiderte ich. Es gab keine Rassentrennung in den 1930er- und 1940er- Jahren – was hätte man da aufheben können? Nebenbei, wir hatten eine Highschool und vier Junior-High-Mittelschulen im Ort.

Dann machte ich mir bewusst, dass sie um die vierzig Jahre alt war, als überall von der Aufhebung der Rassentrennung gesprochen wurde. Offenbar befand ich mich in einer Zeitschleife, und offenbar war die damalige bunte Gesellschaft des Städtchens meiner Jugend nicht so wie das übrige Land.

Ehe ich Lorain verließ, um nach Washington, D.C., dann Texas, dann Ithaca, dann New York City zu gehen, glaubte ich, dass es, von der unterschiedlichen Größe der Städte abgesehen, überall mehr oder weniger ähnlich aussah. Nichts konnte der Wahrheit ferner sein. Jedenfalls veranlassten mich ihre Fragen, noch einmal neu über diese Gegend von Ohio und meine Erinnerungen an meine Heimat nachzudenken.

Kulturelle Apartheid oder Integration

Der Landstrich rund um Lorain, Elyria, Oberlin ist nicht mehr so wie zu der Zeit, als ich dort lebte, aber darauf kommt es kaum an, weil die Heimat in der Erinnerung liegt und in den Gefährten, Freundinnen und Freunden, die diese Erinnerungen teilen. Ebenso wichtig wie die Erinnerungen und der Ort und die Menschen ist aber die Vorstellung, die man von Heimat hat. Was meinen wir eigentlich, wenn wir "Heimat" sagen?

Es ist eine virtuelle Frage, weil das Schicksal des 21. Jahrhunderts von der Möglichkeit oder dem Scheitern einer gemeinsam geteilten Welt bestimmt sein wird. Die Frage kultureller Apartheid und/oder kultureller Integration berührt den Kernbereich allen Regierungshandelns; sie bestimmt unsere Wahrnehmung der Art und Weise, wie Politik und Gesellschaft die (freiwilligen oder der Not gehorchenden) Migrationsbewegungen der Gegenwart bedingen, und sie hat unbequeme Fragen nach Vertreibung und Ankommen und der neuerlichen Zunahme einer Belagerungsmentalität im Gefolge.

Ernte der Schande

Wie widerstehen Individuen der Dämonisierung von Fremden, und wie werden sie zu Komplizen bei diesem Prozess, der den Zufluchtsort eines Migranten zu feindlichem Territorium machen kann? Indem sie Immigranten willkommen heißen – oder aus ökonomischen Gründen Sklaven in ihre Mitte holen und noch deren Kinder wie moderne Untote behandeln. Oder eine komplette Urbevölkerung, oft mit einer jahrhunderte- oder jahrtausendealten Geschichte, zu verachteten Fremdlingen im eigenen Land erklären.

Oder in der privilegierten Gleichgültigkeit einer Regierung der schier biblischen Flut, die eine ganze Stadt vernichtet, tatenlos zusehen, weil deren Bürger überflüssige Schwarze oder Habenichtse ohne Transportmittel, Trinkwasser, Nahrung und Hilfe sind, die man getrost sich selbst überlassen und in fauligem Wasser, in Dachkammern, Krankenhäusern, Gefängnissen, Arrestzellen oder aller Öffentlichkeit schwimmen, um ihr Leben kämpfen und verrecken lassen kann. Solcher Art sind die Folgen beharrlicher Dämonisierung. Es ist eine Ernte der Schande.

Migration nicht wegzudenken

Natürlich ist die Völkerwanderung der Bedrängten zu den Grenzen und über die Grenzen hinaus nichts Neues. Erzwungene oder von der Lust auf Neuland getragene Migration in geografisch oder psychologisch fremdes Territorium ist aus der Geschichte jedes Quadranten dieser Welt nicht wegzudenken, vom Zug der Afrikaner bis nach China und Australien über die Feldzüge der Römer, Türken, Europäer bis zu den merkantilen Raubzügen, die die Gelüste zahlloser Regime, Monarchien und Republiken gestillt haben.

Von Venedig bis Virginia, von Liverpool bis Hongkong. Sie alle haben Reichtümer und Kulturen über die Grenzen getragen. Und sie alle haben eine Blutspur hinterlassen, auf fremdem Boden und/oder in den Adern der Eroberten. Während die Sprachen der Eroberten wie der Eroberer ihren Wortschatz in der Folge um wechselseitige Schmähungen erweitern.

Die Neuordnung politischer und ökonomischer Allianzen und die geschmeidige Anpassung der Nationalstaaten wirken sich ermutigend oder bremsend auf die Verschiebung ganzer Populationen aus.

Vom Höhepunkt des Sklavenhandels einmal abgesehen, ist die Wanderungsbewegung der Völker heute größer als jemals zuvor. Es ist eine Wanderung von Arbeitern und Intellektuellen, von Flüchtlingen, Händlern, Migranten und Armeen, über die Meere oder durch Kontinente, auf heimlichen Pfaden oder durch die Amtsstuben von Einwanderungsbehörden.

Oben auf der Tagesordnung

Sie spricht in vielen Sprachen von Handel und politischer Intervention, von Verfolgung, Exil, Gewalt, Armut, Tod und Schande. Kein Zweifel, dass diese weltweite Umverteilung von Menschen (teils freiwillig, teils unfreiwillig) weit oben steht auf den Tagesordnungen der Regierungsämter und Vorstandsbüros, dass sie das Gespräch bestimmt auf der Straße und im Viertel.

Politische Maßnahmen zur Lenkung der Ströme beschränken sich keineswegs darauf, die Entwurzelten zu überwachen. Die Versetzung von Diplomaten und Managern an die Außenposten der Globalisierung sowie die Errichtung von Militärbasen und die Stationierung frischen Truppenmaterials rangieren weit oben im Arsenal der Mittel, mit denen die Regierungen der Völkerwanderung Herr zu werden suchen.

Die Lawine von Migranten stellt unser Konzept von Staatsbürgerschaft auf die Probe und verändert unsere Wahrnehmung von Raum – öffentlich oder privat.

Die geografische Herkunft

Die allgemeine Verunsicherung hat zu einer Unzahl von hybriden, mit einem Bindestrich zusammengekoppelten Bezeichnungen nationaler Identität geführt. In Zeitungsartikeln ist die geografische Herkunft zu einem wichtigeren Merkmal geworden als die Staatsangehörigkeit, man liest von einem "deutschen Staatsbürger dieser oder jener Herkunft" oder einem "englischen Staatsbürger dieser oder jener Herkunft".

Und all das, während gleichzeitig ein neues Ideal von Weltbürgertum, eine Bürgerlichkeit von bunter kultureller Vielfalt propagiert wird. Die Verpflanzung ganzer Völker hat den Begriff "Heimat" explosiv und unsicher gemacht, während sich die Definition von "Identität" von nationaler Zugehörigkeit hin zur Abgrenzung gegenüber Fremdem verschoben hat.

"Wer ist der Fremde?", ist eine Frage, die uns empfinden lässt, dass in Verschiedenheit eine heimliche, aber wachsende Bedrohung lauert. Wir merken es an der Abgrenzung der Einheimischen von den Neuankömmlingen; an der Verunsicherung, die uns beim Gedanken an die eigene Zugehörigkeit beschleicht (bin ich ein Fremder im eigenen Land?); an der Empfindung ungewollter Nähe statt sicherer Distanz.

Mauern, Waffen und Munition

Gut möglich, dass das treffendste Charakteristikum unserer Zeit darin besteht, dass Mauern und Waffen heute eine ähnlich bedeutende Rolle spielen wie einst im Mittelalter. Durchlässige Grenzen werden in manchen Kreisen als eine Zone der Bedrohung, des unvermeidlichen Chaos begriffen, gegen welches, ob real oder nur eingebildet, Abschottung das einzige Gegenmittel ist. Mauern und Munition – sie mögen funktionieren. Für eine Weile. Aber langfristig versagen sie total, denn die notdürftig Verscharrten, die Bewohner der Massengräber kehren wieder als jene Geister, die die ganze Geschichte der Zivilisation heimsuchen.

Betrachten wir eine weitere Konsequenz der eklatanten Gewalttätigkeit, der das Fremdsein ausgesetzt ist – ethnische Säuberungen. Wir wären nicht nur vergesslich, sondern verantwortungslos, würden wir nicht das Schicksal jener Millionen von Menschen erwähnen, die auf den Status von Ungeziefer oder Umweltschmutz reduziert werden von Staaten, die über eine uneingeschränkte und bedenkenlos ausgeübte Macht der Definition von Fremdheit verfügen und sich anmaßen, über Leben oder einen Tod fern der Heimat zu entscheiden.

Zerstörung der Seelen

Ich habe bereits erwähnt, dass die Vertreibung und das Abschlachten von "Feinden" so alt sind wie die Geschichte selbst. Aber in diesem und dem vergangenen Jahrhundert hat sich etwas verändert, das die Seelen zerstört. In keiner anderen Epoche haben wir eine solche Unzahl von Aggressionen gegenüber Menschen erlebt, die als "nicht wie wir" stigmatisiert werden. Und Sie alle haben gesehen, dass die zentrale politische Frage in den beiden letzten Jahren so gelautet hat: Wer, oder was, ist ein Amerikaner?

Nach allem, was ich von den Historikern des Genozids – seiner Definition und Durchführung – gelernt habe, scheint sich ein Muster abzuzeichnen. Nationalstaaten, Regierungen, auf der Suche nach Legitimation und Identität, sind offenbar in der Lage und auch dazu entschlossen, sich durch die Vernichtung eines kollektiven "Anderen" zu stabilisieren.

Als die europäischen Nationen unter dem Joch monarchischer Konsolidierung standen, konnten sie diese Schlächtereien in ferne Länder – Afrika, Südamerika, Asien – auslagern. Australien und die Vereinigten Staaten, die sich selbst zu Republiken erklärt hatten, mussten ihre indigenen Völker liquidieren oder zumindest ihrer Ländereien berauben, um den neuen, demokratischen Staat aufzubauen.

Immer fand sich ein Grund

Der Niedergang des Kommunismus brachte einen bunten Strauß neuer oder wiederbegründeter Staaten hervor, die ihre Unabhängigkeit daran maßen, wie weit die Säuberungen unter den Gruppen der Unliebsamen gediehen waren. Ob es Angehörige anderer Religionen, Ethnien, Kulturen waren – immer fand sich ein Grund, sie erst zu dämonisieren, um sie dann vertreiben oder liquidieren zu können.

Um einer vermeintlichen Sicherheit willen, oder um die Vorherrschaft zu behaupten, oder um sich ihr Land unter den Nagel zu reißen, wurden die Fremdartigen zur Verkörperung all dessen stilisiert, was die werdende Nation bedrohte.

Wenn meine Gewährsleute, die Historiker, recht behalten, werden wir immer neue Wellen von widersinnigen Kriegen erleben – nur dazu gedacht, den Herrschern dieser Staaten die Macht zu erhalten. Gesetze können sie so wenig stoppen wie irgendein Gott. Interventionen provozieren sie nur. (Vorabdruck aus Toni Morrisons "Selbstachtung", 18.7.2020)