Abbas Khider, 1973 in Bagdad geboren, wurde mit 19 wegen politischer Aktivitäten verhaftet. .

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Bei diesem Autor muss man sich eines vor Augen halten: im Irak geboren, in Deutschland lebend, auf Deutsch schreibend, selbstverständlich ist daran nichts. Elfmal wurde Abbas Khider verhaftet, beim ersten Mal war er 19. Haft und Folter wurden zur prägenden Erfahrung.

1996 floh er aus seiner Heimat und landete 2000 in Deutschland, machte das Abitur, begann Deutsch und Philosophie zu studieren und wurde 2007 deutscher Staatsbürger. Ein Jahr später erschien sein erster Roman, der von den Jahren der Flucht erzählt.

Auch wenn es ihm nicht um Autobiografie, um das direkte Verarbeiten der persönlichen Erfahrung geht, sind Unterdrückung, Flucht, Exil und nichts weniger als die "Zerstörung der Person" seine literarischen Themen, mehr noch, sein Programm.

Aber wie fast heiter souverän er mit den Ängsten des Gefolterten, Flüchtenden, Asylsuchenden umgeht, genau das zeichnet seine Romane aus, die mit Betroffenheitsliteratur nichts gemein haben.

Im neuen Roman schildert er die Anfangsgeschichte, das Heranwachsen eines jungen, kritischen Menschen, dem genau das zum Verhängnis wird: "Es ging alles rasend schnell. Handschellen klickten, mir wurden die Augen verbunden, Polizisten warfen mich in ein Fahrzeug."

Die Misere des heutigen Irak

So schildert Khider die Verhaftung und Ankunft in einem der Foltergefängnisse des Regimes. Aber nicht was dort vor sich geht, ist Inhalt des Romans, die Gefängniskapitel sind jeweils nur kurze Einschübe, der Rahmen einer viel größeren Entwicklungsgeschichte, die uns auch zu den Anfängen der Misere des heutigen Irak zurückführt.

Khiders Held, Shams Hussein, ist ein Jahr alt, als 1980 der Erste Golfkrieg losbricht. Er dauert acht Jahre, jeden Tag erlebt das Kind in der Schule dasselbe Ritual. Der Lehrer fragt: "Wer seid ihr?", und die Schüler antworten im Chor: "Wir sind Pioniere Saddams und der Wiedererweckung." "Gott, Heimat und Führer", lautet die Parole dieser Zeit.

So etwas wie Normalität wird der Heranwachsende nie erleben. Zwei Jahre nach Kriegsende überfällt der Irak Kuwait, die Intervention der USA führt zum Zweiten Golfkrieg. Auch Saddam führt Krieg gegen sein eigenes Volk, als im Süden des Irak, wo die schiitische Mehrheit lebt, Aufstände losbrechen. Shams’ Schule wird bombardiert, die Milizen des Diktators kommen in die Dörfer. "Herzliche Hölle" heißt das Dorf, in dem Shams’ Familie lebt, und so müsste das ganze Land heißen.

Flucht ins "Blechviertel"

Um der Willkür der Geheimpolizei zu entgehen, flüchtet die Familie nach Bagdad, ins sogenannte "Blechviertel": kein Strom, keine Kanalisation, kein sauberes Trinkwasser, nur windschiefe Hütten, die zum Teil aus Metalldosen errichtet sind, streunende Hunde und Katzen, und am Rand dieser Elendssiedlung die Müllhalde, von der die Bewohner leben – denn irgendetwas lässt sich dort finden, was man dann auf dem Markt verkauft. Auch Shams trägt zum Unterhalt bei.

Es sind karge Jahre, die Bevölkerung leidet unter den Repressionen des Regimes und unter dem Embargo, das die USA verhängt haben. Aber in all dem Elend gibt es auch Momente des Glücks – Shams erlebt sie auf dem jeden Freitag stattfindenden Büchermarkt, inmitten der rauen Realität wie eine Oase der Ruhe, des Respekts.

Zum ersten Mal in seinem Leben kauft sich der Fünfzehnjährige ein Buch: erotische Storys von Alberto Moravia. Auf dem Büchermarkt lernt er auch Sabah kennen, und später wird er über diesen Ort sagen: "Das war mein Irak. Hier gab es meine Liebesromane."

Literatur als Gegenprogramm

Die Leidenschaft für Literatur führt ihn bald auch in den Palast der Miserablen, jenen kleinen Kreis intellektueller Menschen, der für Shams zur Schule des Lebens wird. Hier begegnet er nicht nur Oppositionellen, die Literatur bildet auch so etwas wie ein Gegenprogramm zur Religion und den patriarchalen Stammesregeln: Wenn in den Moscheen zu den Freitagsgebeten gerufen wird, finden hier die "Freitagsgespräche" statt, die dem Jugendlichen eine neue Welt eröffnen, deren Aussicht er umso mehr braucht: "Wir hatten keine Zukunftsperspektive. Jeder kämpfte nur noch ums Überleben und suchte verzweifelt nach Nahrung und Medizin."

Aber all das ist nur ein Traum: Im Bus schließt Shams die Augen und stellt sich vor, er würde durch Paris fahren, am Eiffelturm vorbei. Wenn er die Augen wieder aufmacht, sieht er durchs Fenster eine Statue von Saddam … Dann wird überhaupt alles anders.

Während der nächste Krieg schon in der Luft liegt, löst sich der literarische Zirkel, Shams’ Bildungsprogramm und Rettungsanker, nach und nach auf, seine Mitglieder verlassen das Land oder verstummen auf andere Art. Und Shams, der zu studieren begonnen hat, findet sich auf dem Markt wieder, statt Büchern verkauft er nun Zuckerwatte. Bis eines Tages die Polizei vor ihm steht und endgültig alle Lebensträume vorbei sind.

Sich neu erfinden

Man könnte dieses Buch einen arabischen Bildungsroman nennen, der aber genau jene Tradition hinter sich lässt: "Ich kannte Kafka und Puschkin besser als meine Imame", bekundet Shams, und das bedeutet auch seine Entfremdung von der Gesellschaft mit dem Dilemma von Herkunft und Bildung.

Dabei geht es nicht nur um ihre Tradition, es geht auch um ihre Fragmentierung. Schiitische Fundamentalisten in den Armutsvierteln, die gefürchtete Geheimpolizei, die die Bürger kontrolliert, und auf der Uni in Bagdad eine westlich orientierte Jugend, Sprösslinge der Upperclass, für die Shams ein "Außerirdischer" ist, weil er keine westliche Musik, kein Internet kennt.

Das führt uns vor Augen, was dieses Land einmal war oder wie sich gebildete Schichten heute in der arabischen Welt fühlen müssen, denn es zeigt, wie jemand wie Shams zwischen die Fronten gerät.

Jemand wie sein Autor aber hat aus all dem einen Ausweg gefunden, indem er sich seine Identität neu erfand und jenen Lebensentwurf wahrmachte, von dem dieser wunderbare Roman erzählt. (Gerhard Zeillinger, 19.7.2020)