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Der Grundlsee in der Steiermark: drei Mädchen in Tracht beim jährlichen Narzissenfest im Ausseerland.

Foto: Picturedesk.com / APA / Barbara Gindl

Onkel Alois wurde in Bad Aussee erschossen. Meine Mutter hat mir von ihm erzählt, wenn sie von Ausflügen dorthin zurückkam. Aber ich wollte nicht zuhören. Bücher waren mir wichtiger als das Gebirge. Mein Körper weigerte sich, bergauf zu steigen. Ich bekam Atemnot, sobald ich Felswände nur erblickte. Lieber las ich.

Dabei stellte Onkel Alois eine seltene Verbindung von Büchern und Bergen dar. Er lebte im Ausseerland, sammelte Schriften von hier urlaubenden Literaten, korrespondierte mit deren Nachkommen, um eine Atmosphäre zu rekonstruieren, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts dort entfaltet hatte.

Eine einzigartige Symbiose von Einheimischen und Landschaft wurde aufgeladen durch die Sehnsüchte wohlhabender Städter. Adelige und Großbürger mieteten sich sommers ein oder erwarben, ja errichteten sogar Villen, reisten mit Hausstand und Dienstboten aus Wien an.

Sogar Salons gab es, in denen sich Bohemiens, Schriftsteller, Forscher, Schauspieler, Pädagogen, Wissenschafter trafen, bis ein Teil von ihnen mit einem Mal als jüdisch und unwillkommen identifiziert und verjagt wurde, ihre Sommersitze billig erworben oder ersatzlos arisiert, die Bewohner entweder rechtzeitig geflohen oder gefangen genommen, verschleppt und ermordet.

Ersetzt wurden die Vertriebenen durch neue Herrscher, Nazigrößen, welche die Nischenhaftigkeit der Region nutzten, um sich vom Kriegsgeschehen auszuruhen, ihre Familie in Sicherheit zu bringen oder sich schließlich vor Strafverfolgung zu retten.

Dichte Geschichte

Dichte Geschichte also, in der Onkel Alois herumstocherte, auch er ein Zugezogener, Vertreter der Exekutive, von den Einheimischen nie am Stammtisch akzeptiert. Er sammelte Spuren des Vergangenen, gründete ein Literaturmuseum, berichtete meine Mutter stolz. Ich aber hörte nicht zu, wollte vor allem fort aus Österreich.

Jetzt aber will ich mehr darüber wissen und wandere auf seinen Wegen. Onkel Alois ist lange schon tot, seine Sammlung nun offiziell ein Museum. Während ich durch die nassgrün leuchtende Landschaft gehe, grüble ich über Fantasien einer Einheit von Natur und Mensch, diesen Drang, sich die Berge erschließen zu wollen, der den Städtern im Zuge zunehmender Industrialisierung reizvoll schien.

Während sich die Arbeiter in Fabriken, in denen der Wohlstand vieler Sommerfrischler erwirtschaftet wurde, unter schlechtesten Bedingungen körperlich verausgabten, lernten die Bürgerlichen in den Bergen, ihre körperlichen Kräfte zu erspüren.

Ich studiere Hinweistafeln auf dem Wanderweg, die mich über prominente Gäste informieren, auf Häuser verweisen, in denen sie weilten. Aber meist ist da etwas, das fehlt. So wie in der Geschichte um die Familie Mautner, der es gelungen war, ein Textilimperium aufzubauen und die mit ihren Kindern jeden Sommer an den Grundlsee fuhr.

Mit den Einheimischen singen

Von Anfang an fühlt sich der Industriellensohn Konrad angezogen von der ländlichen Lebenswelt und macht ihre Erforschung schließlich zu seiner Aufgabe. Vorwiegend hält er sich im Gasthof Veit in Gössl auf, notiert Lieder, lässt sich vorsingen, erzählen, es gibt bereits vorsintflutliche Aufzeichnungsapparate, er sammelt traditionelle Kleidung und Arbeitsgeräte. Konrad lebt, singt, juchzt mit den Einheimischen, heißt es.

Regelmäßig verbringt er mit seiner Frau Anna und den Kindern Zeit in der Region, bis sie schließlich das ganze Jahr hier wohnen. Dann geht die väterliche Fabrik in Konkurs, Konrad Mautner stirbt. Die finanziellen Rücklagen sind bald aufgebraucht. Inzwischen hat auch seine Frau genügend handwerkliches Wissen erworben und beginnt mit Seidendrucken, per Hand, damit sie die Familie ernähren kann.

Konrad Mautner war längst als wichtiger Volkskundler anerkannt und hat dem Museum für Volkskunde Teile seiner Sammlung zur Verfügung gestellt. Die nötigen Druckvorlagen kann Anna sich von dort leihen, auch ein Freund der Familie, Viktor Geramb, hilft mit seiner Expertise und holzgeschnitzten Modeln aus dem Grazer Volkskundemuseum, um eine authentische Produktion sicherzustellen.

Nicht mehr legitimiert

So kann Anna ihre Marke, die Mautner-Drucke, etablieren und sich samt Kindern durchbringen. Längst leben sie im eigenen Haus am Grundlsee. Bald aber gibt es ein Problem. Sie sind jüdischer Herkunft, und der Antisemitismus zeigt sogar in dieser abgelegenen Gegend seine Auswirkungen.

Die von jüdischen Wiener Familien errichteten Häuser und Villen werden nach und nach arisiert. Ab 1938 wird Juden sogar das Tragen von Trachten verboten. Anna Mautner ist nun nicht mehr eine Frau, die einen wertvollen Beitrag zum Erhalt von alpenländischer Tradition leistet, sondern ein Widerspruch, welcher in der nun geltenden Ideologie nicht hinzunehmen ist. Was sie tut, ist nicht mehr legitimiert.

Auf den zahlreichen Fotos, die ihr Mann Konrad inszeniert hat, sind oft Familienmitglieder in einer Vielfalt von traditionellen Kleidern und Kopfbedeckungen zu sehen. Als diese Bilddokumente schließlich für das Österreichische Museum für Volkskunde inventarisiert werden, wird auf die Nennung der Namen von Schwestern und Ehefrau verzichtet.

Sie verlieren ihre Identität, werden zu bloßen Angehörigen einer verachteten Gruppe von Menschen, die sich noch dazu anmaßten, jene Kleidung zu tragen, die zum Symbol für das Authentisch-Einheimische missbraucht worden war: Jüdinnen in Tracht. Diese Menschen zu vergessen, ja zu suggerieren, dass sie nie existierten, ist dabei beabsichtigt. Das Vorhaben gelingt.

Nirgendwo finde ich eine Tafel in der Region, in der Anna Mautner lebte und wirkte, nirgendwo einen Hinweis auf ihr Schicksal zu jener Zeit. (Außer in wissenschaftlichen Arbeiten, Provenienzforschungs- und Restitutionsberichten, danke!)

Über 500 Gegenstände

Vor allem muss Anna nun sich und ihre Familie vor dem sicheren Tod retten, braucht Geld für die Flucht. Das Wiener Volkskundemuseum interessiert sich für die wertvolle Sammlung ihres Mannes. Der Nazi-Bürgermeister von Bad Aussee, Hanns Wöll, hat ebenfalls Pläne für den Bestand. Annas Familie flüchtet über Ungarn, Rumänien, Portugal teils nach England, teils in die USA.

1938 werden Bauernmöbel und bäuerliche Antiquitäten aus verlassenen Sommersitzen Verfolgter "sichergestellt", auch die von Anna Mautner mit über 500 registrierten Gegenständen. SS-Standartenführer Hanns Wöll will in den Räumen des Gasthauses Blaue Traube ein Museum einrichten, das sogenannte Heimathaus.

Kästen, Truhen, Stühle, Tabakpfeifen, Trachtenfiguren, Trachtenskizzen, Abschriften von Liedern aus dem Salzkammergut und vieles mehr aus Mautners Besitz landen dort. Hanns Wöll erwirbt aus der beschlagnahmten Masse die zurückgelassenen Druckmodel und Druckrezepte, richtet eine eigene Produktion ein.

Kein Stein für Anna

Weil es ohnehin dauernd regnet und keine Badefreuden möglich sind, will ich Spuren dieser Vorfälle ergründen. Wo und wie sind die Nachwirkungen des damaligen Geschehens zu spüren? Von einem früheren Besuch in der Gegend meine ich mich an eine Gedenktafel für Anna Mautner auf dem Weg zum Toplitzsee zu erinnern.

Meine, gelesen zu haben, dass sie alles aufgeben musste, nachdem sie aus Niedertracht zur Jüdin gemacht worden war. Immerhin bildet ihre Arbeit die Grundlage der heute herrschenden Trachtenreligion und den florierenden Geschäften damit. Die Hälfte aller Läden hier bietet Trachtenprodukte in allen Variationen und Preisklassen an.

Am Toplitzsee entdecke ich vor allem Schautafeln mit Zeitungsausschnitten, die von Nazi-Schatzsuchern und vergeblichen Tauchgängen berichten. Nur Bakterien und Wurm Willi, die am Grund aufgespürt wurden, stellten sich als nebenbei geschehene und bleibende Funde von Wert heraus.

Den Stein für Anna finde ich nicht mehr, sondern nur eine von einem Holzstoß halb verdeckte Wegbezeichnung sowie eine Tafel zu Ehren Konrads. Als alpenbegeisterter Städter hatte er Volkskunst gesammelt, verschriftlicht, vor dem Vergessen bewahrt und damit zur heutigen Identität des Ausseerlands beigetragen, welche im Tourismus gewinnbringend vermarktet wird, jedoch in einer geisterhaften Welt, ohne Juden.

So bleiben Lücken. In Geschäften und Webpräsenzen der Trachtenmodeproduzenten offenbart sich eine gedenkenlose Lobpreisung dieser Handwerkskunst. Aufgeregt flattern Kundinnen durch die Verkaufsräume auf der Suche nach der passenden Seidenschürze zum Leinendruck, verzierten Knöpfen fürs Mieder, der fachgerechten Drapierung ihrer Spitzenblusen, während ihre Männer eher verständnislos danebenstehen. Nirgends eine Erwähnung, wie beide Mautners dazu beitrugen, dass diese Techniken und ihre Wertschätzung bis heute bestehen. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan und mussten gehen.

Reste der Sammlung Mautner

Es regnet, also suche ich das Regionalmuseum in Bad Aussee auf. Hier sollen sich Reste der Sammlung Mautner befinden. Eigentlich ist geschlossen, doch eine Trachtenhochzeit ist im Gange, und ich darf hinein. Eine freundliche, dirndlbekleidete Führerin bringt mich zum Raum mit den berühmten Modeln. Endlich kann ich sie bestaunen.

Es sind vor allem florale Motive, Blüten, Blätter, Ähren, zu Girlanden gefasst, von konkret bis abstrahiert. Oft findet sich auch das Paisley motiv, welches aus Persien über Großbritannien nach Europa gekommen war, eine Form, die entweder als Auge, Tropfen oder Flamme beschrieben wird. Eine schmale Vitrine ist mit Konrad Mautners Liedersammlung, dem Steyrischen Raspelwerk, befüllt. Über Kopfhörer kann ich einige Nummern sogar nachhören. Von Anna keine Spur.

1946 kommt sie aus den USA wieder an den Grundlsee und reicht Rückstellungsanträge für Haus, Einrichtung, die Firma Mautner Handdrucke, die Trachtensammlung ein. Die Model und das arisierte Wohnhaus besitzt jetzt die Witwe eines hohen Beamten der deutschen Regierung, Eduard Brücklmeier. Sie will nichts zurückgeben und verweist auf den Tod ihres Mannes im Umfeld des Attentats vom 20. Juli 1944.

Ein Streit darum, wer von den beiden Frauen politisch verfolgter als die andere gewesen sei und damit Anrecht auf den Besitz habe, entbrennt. Anna Mautner schreibt: "Damals war ich die rechtlose und geächtete Jüdin (…) und sie die angesehene Gattin eines Legationsrates in Berlin, die in politischer Hinsicht gerade das Gegenteil von ‚politisch verfolgt‘ war."

Schließlich müssen sich die Frauen auf einen Vergleich einigen. Die Firmeneinrichtung bekommt Anna Mautner zurück, doch die für das Heimathaus beschlagnahmten Gegenstände erhält sie bis 1949 nicht. Die Trachtensammlung verbleibt im Besitz der Gemeinde. Diese sogenannte Trachtenkammer dient nach dem Krieg sogar als Leihhaus, wo man sich die wertvollen Stücke für Feste ausborgen kann. Manche werden gar nicht mehr zurückgebracht. Ein spärlicher Rest ist im heutigen Kammerhofmuseum zu besichtigen.

"In die Emigration gegangen"

Neuerlich wandere ich um den See in Richtung Gössl, finde Hinweise auf Berühmtheiten, die hier Häuser hatten, Hof hielten, künstlerisch arbeiteten, bis heute anscheinend, wie sich an der Fotowand im Gasthof Veit, dem Ausgangspunkt von Konrad Mautners Forschungen abzulesen ist. Der Name von Edith Kramer, Nichte des Dichters Theodor, fällt mir auf, die als Malerin und Kunsttherapeutin arbeitete. Über sie ist auf der Infotafel zu erfahren, dass sie "in die Emigration ging", so als wäre das ein fest umrissenes Land, wohin man sich freiwillig entschließt zu reisen.

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Im Gasthaus Veit in Gössl im Jahr 1910: "der Mann wahrscheinlich Konrad Mautner". Und Anna Mautner?
Foto: Picturedesk.com / Imagno

Auch im Nachruf auf Anna Mautners Tochter in der Bezirkszeitung ist zu lesen, dass sie in "schweren Zeiten auswanderte". Ich wundere mich, wie es gelingt, geschichtliches Wissen auf die Zeit vor und die Zeit nach dem Nationalsozialismus zu konzentrieren. Es gibt Ausnahmen, ja. Aber das reicht nicht.

In Gössl ragt eine steile Felswand auf. Rinnsale glänzen in der Sonne, Licht, das sich in feinen Wassertropfen irisierend bricht. Später lese ich, dass diese Wand für Schießübungen der Nazis requiriert wurde, Soldaten in den umliegenden Gasthäusern einquartiert, das Gelände abgesperrt, um neu entwickelte Geschosse zu testen. Auf dem von Konrad Mautner zu Friedenszeiten inszenierten Fotografien sitzen seine Frau und seine Schwestern genau vor dieser Wand, bevor sie zu Jüdinnen in Tracht abgewertet wurden.

Von nichts erfahren wollen

Mit diesem Hintergrundwissen wird der Blick auf die Natur durch die Infamie des Vergangenen überlagert. Ich kann der Landschaft ihre Schönheit nicht abnehmen, erspüre Reste von Feindseligkeit. Würde die Sonne immer scheinen, würde ich mich einlullen lassen, ins klare Wasser des Grundlsees tauchen und schwimmen, von nichts erfahren wollen. Aber es regnet, und das Wohlgefühl, das diese Landschaft bietet, bleibt bloße Möglichkeit.

Leise klimpern die Masten von Segelbooten im Wind, ich liege auf dem Sofa und höre die Malerin Edith Kramer in New York auf Tonband über die schwierigen Anfangsjahre nach der Flucht erzählen. Ihre Stimme, voller Ungeduld, schwankt zwischen Englisch und Wienerisch.
Die Hütte bei Grundlsee, in die sie sich – trotz allem – Sommer für Sommer zurückzog, habe ich nicht gefunden.

Wahrscheinlich hätte Onkel Alois mehr über derartige Vielschichtigkeiten gewusst. Die Gelegenheit, ihm zuzuhören, habe ich versäumt. Am Gemeindehaus, in dem das Literaturmuseum residiert, ist auf der Seitenwand eine Gedenktafel für Onkel Alois angebracht.

Als Gendarm sollte er am Bahnhof Bad Aussee einen Geldtransport überwachen. Der ihm wohlbekannte Taxifahrer des Ortes trat hinzu, forderte das Geld, und als Alois sich weigerte, drückte der Räuber ab. Der Schuss war tödlich.

Die "Mautner Handdrucke"

Immerhin erfuhr Anna Mautners Werk nach ihrem Tod eine Fortsetzung. Im Jahr 1960 gründet eine ehemalige Mitarbeiterin mit den Druckmodeln die "Mautner Handdrucke", die bis 1984 bestanden. Deren Tochter nimmt die Druckerei 1996 wieder auf und führt sie bis heute fort.

Auf der Firmenwebsite ist Anna Mautner zwar erwähnt, nicht aber, was während des Nationalsozialismus mit ihr und ihrem Besitz geschehen war. Warum eigentlich nicht? Was wäre daran so schlimm? Und warum hat Anna Mautner keine Erwähnung, keinen Straßennamen oder keinen eigenen Raum im Heimatmuseum verdient? Wenn doch viele heute an dem verdienen, was ihr Verdienst war?

Kurz vor meiner Abreise schickt mir der Zufall ein Geschenk. Als ich mich nach meinen Wanderschuhen bücke, die ich fast zwei Wochen lang am Eingang unter dem Porträt des ehemaligen Besitzers der Ferienwohnung abgestellt habe, fällt mir plötzlich eine Signatur in der rechten unteren Ecke des Gemäldes auf: Kramer.

In den Falten seines Trachtenanzugs erkenne ich die Grau- und Grüntöne der Landschaft wieder, welche ihn hier umgab. Ich war also mehrfach an dieser von Edith Kramer hinterlassenen Arbeit vorbei gegangen, in diesem Haus, das sie wahrscheinlich zu ihren noch Lebzeiten betrat, um das Gemälde abzuliefern.

Wie schön! (Sabine Scholl, 19.7.2020)