Manchmal können Entdeckungen nur auf Umwegen gelingen: Eine Simulation wie diese war nötig, um in der Milchstraße eine Gruppe von Sternen zu identifizieren, deren Ursprung außerhalb liegt.
Foto: Hopkins Research Group, Caltech

Nyx wie die griechische Göttin der Nacht nennt die Astronomin Lina Necib vom California Institute of Technology eine Gruppe von Sternen, die sie "in unserer Nachbarschaft" ausfindig gemacht hat – soll heißen: in einem Umfeld von wenigen tausend Lichtjahren. Das Besondere an diesen Sternen ist, dass sie ursprünglich nicht zur Milchstraße gehört haben. Sie sind der Überrest einer anderen Galaxie, die von der Milchstraße absorbiert wurde. Die Entdeckung wurde in "Nature Astronomy" vorgestellt.

Etwa 250 Sterne gehören zu dieser losen Ansammlung, die wie ein verwehter Nebelschwaden geformt ist und jeweils an die 6.000 Lichtjahre "über" und "unter" die vergleichsweise dünne Scheibe der Milchstraße hinausragt. Optisch wäre sie nicht als Einheit identifizierbar, erst aufwendige Berechnungen konnten zeigen, dass die Sterne einem gemeinsamen Kurs folgen. Nyx rotiert in ihrer Gesamtheit mit der Milchstraßenscheibe, driftet dabei aber langsam dem Zentrum entgegen.

Schliere einer zerrissenen Ballung

Was heute ein loser Sternenstrom ist, muss ursprünglich zu einem dicht gepackten Sternhaufen oder einer Zwerggalaxie gehört haben, die der Milchstraße zu nahe kam und von den auf sie einwirkenden Gezeitenkräften zerrissen wurde. Wann diese Kollision erfolgte, lässt sich noch nicht sagen, wie Necib gegenüber dem STANDARD erklärte. Genauere chemische Analysen der Sterne von Nyx könnten darüber aber bald Auskunft geben.

Bislang weiß man zumindest, dass sie im Schnitt etwa ein Drittel des Eisengehalts der Sonne haben. Da schwere Elemente immer seltener werden, je weiter man in der Zeit zurückgeht, entsprechen die Mitglieder von Nyx laut Necib in etwa den Charakteristika von zehn Milliarden Jahre alten Sternen – womit sie gut doppelt so alt wie die Sonne wären. Um ein genaueres Profil zu erstellen, plant Necib unter anderem Beobachtungen mit dem Keck-Teleskop auf Hawaii und dem Magellan-Teleskop in Chile.

Es ist nicht das erste Mal, dass Spuren einer verschluckten Nachbargalaxie entdeckt wurden. 1999 etwa wurde der sogenannte Helmi-Strom identifiziert, Überrest einer Zwerggalaxie, die vor sechs bis neun Milliarden Jahren von der Milchstraße absorbiert worden ist. Bis zu elf Milliarden Jahre liegt es zurück, dass der Zwerggalaxie Gaia-Enceladus das gleiche Schicksal widerfuhr. Was von ihr noch erkennbar ist, trägt heute wegen seiner Form die Bezeichnung "Gaia-Wurst".

Komplexe Entdeckungsgeschichte

Diese Strukturen haben auch eine wichtige Rolle bei der Identifizierung von Nyx gespielt. Denn die Entdeckungsgeschichte dieses Sternenstroms, die einen Einblick in moderne astronomische Arbeitsprozesse gibt, war deutlich komplexer als ein Blick durchs Teleskop. Es mussten riesige Datenmengen durchforstet und durch Simulationen gejagt werden. Die Grundlage lieferte die 2013 gestartete ESA-Raumsonde Gaia, deren Zielvorgabe es ist, eine Milliarde Sterne zu kartieren. Daraus soll ein hochpräzises 3D-Modell zumindest eines Teils der Milchstraße entstehen, in dem die Sterne samt ihren Bewegungen enthalten sind.

Kurz nach dem Start von Gaia begannen Astronomen mehrerer US-Universitäten mit dem Projekt FIRE ("Feedback in Realistic Environment"), das auf mehreren Supercomputern läuft und unter anderem Bildung und Wachstum von Galaxien simuliert. Auch Kollisionen und Verschmelzungen gehören dazu, da sie der entscheidende Faktor sind, wie eine Galaxie auf die Größe der Milchstraße und darüber hinaus anwachsen kann. In den simulierten Galaxien konnten die Forscher jeden Stern mit einem Label seines Ursprungs versehen, Fremdkörper waren also auch lange nach einer Verschmelzung noch identifizierbar.

Nun galt es "nur" noch, die Erkenntnisse über fiktive Galaxien auf real existierende zu übertragen. Ein künstliches neuronales Netz wurde mittels Deep-Learning-Software darauf trainiert, die Muster in den fiktiven Galaxien zu erkennen – und anschließend in der Milchstraße nach Vergleichbarem zu suchen. An Helmi-Strom und Gaia-Wurst wurde die Methode getestet, beide wurden auch zuverlässig erkannt. Überraschend schnell kam so aber auch die erste Struktur ans Licht, von der man zuvor noch nichts gewusst hatte: eben Nyx. Necib durchforstete anschließend sämtliche astronomischen Kataloge, um sicherzugehen, dass dieser Sternenstrom bislang noch unentdeckt war. Als sich das bestätigte, fiel ihr die Ehre der Namensgebung zu.

Ausblick auf die Zukunft

Das Ende vom Lied ist das freilich noch nicht. Weder für die Astronomen, die im Lauf der Zeit in den Gaia-Daten noch andere Relikte vergangener Mahlzeiten der Milchstraße entdecken dürften, noch für die ewig hungrige Milchstraße selbst. Aktuell gibt es etwa Materieströme, die die Milchstraße lose mit den Magellanschen Wolken und mit der Sagittarius-Zwerggalaxie verbinden. Die Riesin interagiert mit ihren kleinen Nachbarinnen, auch wenn zum bisherigen und künftigen Ablauf dieser Interaktionen immer noch viele Fragen offen sind.

Sicher ist jedoch, dass ein Brocken auf die Milchstraße zugerast kommt, an dem sie sich verschlucken wird. Denn die nicht minder gefräßige Andromedagalaxie befindet sich auf Kollisionskurs mit ihr, nach Schätzungen von Astronomen werden die beiden Galaxien in etwa vier Milliarden Jahren aufeinander stoßen. Da sie von ihrer Größe her ebenbürtige Kontrahentinnen sind, wird keine die andere einfach absorbieren können. Stattdessen werden sich die bisherigen Strukturen beider Galaxien auflösen, um sich schließlich zu einem größeren Ganzen zu verbinden. Die neue Riesengalaxie könnte erneut Spiralform haben, als wahrscheinlicher gilt jedoch, dass es eine elliptische Galaxie sein wird. Neben dem Andromeda-Milchstraße-Hybrid wird dann endgültig alles, was sonst noch in der Lokalen Gruppe herumschwirrt, Zwergenstatus haben. (jdo, 19. 7. 2020)