Heribert Corn

7.30 Uhr, U-Bahn-Station "Kaisermühlen VIC", der örtlichen Verquickung von der in Österreich weltberühmten Hausmeisterinnen-Saga "Kaisermühlen-Blues" mit der Internationalität eines Uno-Standorts. Während ausgeschlafene Menschen an mir vorbei ins Vienna International Center strömen, um dort wichtiger Arbeit nachzugehen, nehme ich den Weg in die Gegenrichtung. Am Kaiserwasser entlang, das nahezu menschenleer ist – bis auf ein paar Spaziergänger und zwei Übriggebliebene der letzten Nacht. Hier geht es vorbei an den großen Gemeindebauten.

Kaum ein Weg ist länger als der ins Freibad, auf kurzen Kinderbeinen, an einem knallheißen Sommertag. Aber um halb Acht, erwachsen und vor dem Büro, ist dieser Weg auch das Ziel. Genauso, wie er einst nachts nach dem Gänsehäufel über eines der Strandwirtshäuser geführt hat. Es geht über die Brücke am Laberlweg, von der einander nachmittags und abends die Teenager zur Beeindruckung anderer Teenager ins Wasser werfen, mit viel Getue und Gespritze und irgendwie wie vor 100 Jahren.

Vor der Brücke zum Gänsehäufel – welches Freibad auf der Welt in einer internationalen Großstadt ist schon eine Insel und hat eine eigene Brücke! – gleißt die Sonne bereits dermaßen, dass ich kaum die Schrift auf dem Tor lesen kann. Nein, es fehlen tatsächlich ein paar Buchstaben. Aber: "STÄDTISCHES STRAND ÄNSEHÄUFEL" reicht mir völlig als Glücksverheißung.

Rechts durchschneidet der Bug eines Ruderbootes das Wasser, der Himmel ist blau, als wär dieser ganze Frühling und Frühsommer nicht ein einziger Irrsinn gewesen. Auch die kleinen Bootsstege und Häuschen tun scheinheilig so, als hätte man sich die Corona-Krise samt all ihren Begleiterscheinungen nur eingebildet.

Ich betrete das Gänsehäufel eine Stunde vor der Öffnung für die Allgemeinheit und komme mir vor, als hätte ich mir etwas erschlichen oder wäre nach Badeschluss ins Bad eingebrochen. Trotzdem ist hier zu viel los. Becken werden kontrolliert, im Golfwagerl fährt jemand vielbeschäftigt vorbei, Menschen mit Werkzeugen, Tatendrang überall. Die Baderegeln für Covid-19 sind ausgeschlagen, "Menschenansammlungen sind zu vermeiden" steht da, noch ist das eine einfache Übung.

120 Jahre Nackerpatzerl

Die Geschichte des Gänsehäufel begann 1900, und das nackt: Wo vorher auf einer angeschwemmten Insel in der Donau Gänse gezüchtet wurden, gründete der Pedikeur und Naturheilkundler Florian Berndl, einen Pachtvertrag in der Tasche, die "Berndl-Kolonie", propagierte Luft- und Sonnenbäder und das natürliche Leben.

Frauen und Männer badeten gemeinsam! Skandal! Rasch wurde der Vertrag gekündigt, Berndl gründete am nördlichen Ufer der Alten Donau "Brasilien in Wien", später eine Kleingartensiedlung – ja, wirklich: Gar nicht so wenige dieser Siedlungen haben einst als Ansammlung von Freigeistern begonnen, auch wenn inzwischen oft wenig davon spürbar ist.

Im FKK-Bereich des Gänsehäufel gibt‘s nur eine einfache Regel: Man muss sich nicht ausziehen, wenn man reinkommt. Aber man muss was anhaben, wenn man rausgeht.
Foto: Heribert Corn

Die revolutionäre Idee des Herrn Berndl wurde flott institutionalisiert: 1907 eröffnete die Stadt Wien hier ein Strandbad. Die Freiluftbäder als Ersatz für die Donaustrombäder waren Teil des Siegeszugs des kommunalen Wohnbaus, von dem das Leben in Wien heute noch enorm profitiert. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gänsehäufel zerstört, 1950 nach den Plänen der Architekten Max Fellerer und Eugen Wörle neu eröffnet. Inzwischen ist es längst denkmalgeschützt, Beton-Uhrturm inklusive.

Die gesamte Insel steht unter Naturschutz. Für die legendären Badehütten mit Terrasse, die hier Kabanen heißen, schließlich sind sie keine Kabinen, steht man bis zu sechs Jahre auf der Warteliste, man zahlt dafür pro Saison um die 600 Euro. Inzwischen ist das Gänsehäufel auch ein Verzeichnis ehemaliger bis aktueller sportlicher und bäderbautechnischer Neuheiten, vom Wellenbecken bis zur Fitness-Station, vom Hochseilklettergarten bis zum Stand-Up-Paddling-Center, vom Tennisplatz bis zum Minigolfplatz. Weil ohne Minigolf ist ein Freibad eigentlich nichts.

Surschnitzel statt Sex

Die wahre Attraktion des Bades liegt jedoch hinter der Hecke, hinter dem Schild mit dem durchgestrichenen Bikini und der durchgestrichenen Kamera: der FKK-Bereich. Die wahre Sensation dieses Ortes: Es ist so herrlich unspektakulär hier. Stille.

Nacktschwimmen muss man mögen? Nacktschwimmen ist eine Frage der Gewohnheit. Neben den offensichtlichen Vorteilen wie Nix-mitnehmen-müssen-außer-ein-Handtuch (wenn überhaupt) gibt es auch ideelle: Wer das im Freibad kann, auf die täglich angezogenen Insignien zu verzichten, lernt für’s Leben und verlernt die Scham. "Da schaut dich kana an", sagt eine Gästin. "Draußen schaut man viel mehr auf die Figur. Hier schauen wir ins G’sicht." Die Stammgäste schauen anderswo genau: Wer mit dem Handy fotografiert, fliegt. Spanner auch. Viele Frauen kommen alleine, weil sie hier ihre Ruhe haben. Viele mit Kindern.

Teenager ziehen sich meist für ein paar Jahre zurück, selbst die vom Stammpublikum. Nackte Erwachsene der Altersgruppe 40+ aufwärts sind kein Habitat für Jugendflirts. Mit ihren eigenen kleinen Kindern kehren sie allerdings oft wieder. Neue Gäste werden genau unter die Lupe genommen. Das ist nicht anders als im Beisl oder im Kaffeehaus. Gruppenbildung bei größtmöglicher Distanz.

Sabine Kastanek kocht seit 19 Jahren im Gänsehäufel-Buffet, ihre Eiernockerl: Legende!
Heribert Corn

Morgens machen sich die Krähen wichtig und tun so, als bedürfe jegliche menschliche Anwesenheit ihrer Erlaubnis. In Wahrheit fladern sie später den Gästen die Jause aus den Taschen und killen die Baby-Enten, verrät mir die freundliche Dame vom Buffet, Sabine Kastanek. Seit 19 Jahren arbeitet sie hier, seit 17 Jahren im FKK-Bereich. Ihr Dienst startet um acht Uhr. Unter der Woche beginnt die dichte Zeit um elf Uhr ("Sabine, was gibt’s heute?" fragt schon jemand im Hintergrund).

Kastanek kennt sie alle. 80 Prozent Stammgäste kommen her, für die ist sie Vertrauensperson, auch wenn viele von ihnen heuer wegbleiben. Was ist anders, während Corona? "Für die Älteren ist es schlimm, dass der Bäderbus nicht fährt und sie sich in der Schlange anstellen müssen, weil es keine Saisonkarte gibt. Ich hab mit vielen telefoniert, wie’s ihnen geht, weil sie Risikogruppe sind. Aber Gottseidank, bei niemandem war etwas..."

Hier sagt man Schatzi

Für viele Gäste ist der Aufenthalt hier wie der jährliche Urlaub oder der Besitz eines Wochenendhauses, zum Kostenpunkt einer Kabane. Den Pensionistinnen, Pensionisten und Menschen in Kinderkarenz gehört der Vormittag unter der Woche, später kommen die Leute aus den Büros, wochenends die Familien.

Nackt essen ist definitiv ein Akt für Fortgeschrittene (ein Handtuch zum Draufsitzen muss jedenfalls mitgebracht werden). "Die ersten beiden Tage, an denen ich da gearbeitet hab, wusste ich nicht, wohin schauen", erzählt Kastanek lachend. In der Wintersaison arbeitet sie in einem Imbiss im 4. Bezirk. Einmal waren Leute vom Bad da, "Ich hab sie nicht erkannt. Einer meinte: Kennst mi ned? Soll ich mich ausziehen?" Favorit der Buffet-Stammgäste: "Die Eiernockerl, Schatzi. Die sind berühmt", sagt Kastanek. Jede Portion wird frisch gemacht. Dafür kommen auch Gäste von "draußen". Die Regel ist einfach: Man muss sich nicht ausziehen, wenn man hereinkommt. Aber man muss sich anziehen, wenn man rausgeht.

Wird, wer hier lange arbeitet, Teil eines größeren Ganzen? So wie wohl auch im Prater oder in der Hofburg? "Ich könnte ohne dem nicht ... leben könnt ich schon, aber es ist für mich wichtig, dass ich da bin." Paulina Veeras De Lakos arbeitet seit vier Jahren hier, "den ganzen Tag neue Leute, ich mag es, mit allen bisschen plaudern …". Sie arbeitet im Service, zum Schwimmen bleibt da keine Zeit. "Und wenn ich frei habe, geh ich woanders hin."

Yulissa Lima Medina und Paulina Veeras De Lakos bedienen die Bad-Nackerpatzerl.
Heribert Corn

Am liebsten bliebe ich hier, bis die Schwäne am späten Nachmittag die Liegewiese wieder für sich zurückfordern. Ich schwimme eine Runde und mache mich dann unwillig auf den Rückweg. Die Hochhäuser der "Donau City" versuchen die Donaulandschaft, die sie überragen, zum Zwergenland zu degradieren. Doch die hält mit Seerosengrün und Himmelsspiegelung entgegen und gewinnt. Und den ganzen Tag, wenn ich die Augen schließe, sehe ich grün. (Julia Pühringer, 18.7.2020)