Kurbjuweit: "Wenn ich Schriftsteller sein will, muss ich durch eine Tür in eine andere Welt gehen."

Foto: Ekko von Schwichow

STANDARD: Seit Ende der 1990er-Jahre arbeiten Sie für den "Spiegel". Sie waren von 2015 bis 2018 einer von drei stellvertretenden Chefredakteuren und leiten nun wieder das "Spiegel"-Hauptstadtbüro in Berlin. Parallel dazu haben Sie in den vergangenen zwanzig Jahren nicht nur Sachbücher geschrieben, etwa über Angela Merkel, sondern auch erfolgreiche literarische Werke vorgelegt. Wie ist es Ihnen gelungen, neben Ihrer intensiven journalistischen Tätigkeit auch ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden?

Dirk Kurbjuweit: Ich weiß es nicht. Ich wollte immer nur schreiben, schreiben, schreiben. Über das Schreiben kam ich zu diesen anderen Jobs, aber ich musste weiterschreiben. So ist es wohl passiert, ohne Plan, ohne Absicht.

STANDARD: Als Journalist stellen Sie Fragen, als Schriftsteller müssen Sie welche beantworten. Wie gehen Sie mit diesen konträren Rollen um?

Kurbjuweit: Ich bin vor allem Journalist. In der Regel sind meine Tage mit politischem Journalismus gefüllt, ich lebe und denke in dieser Welt. Wenn ich Schriftsteller sein will, muss ich durch eine Tür gehen in eine andere Welt. Es gibt einen Schlüssel für diese Tür, den ich manchmal finde, manchmal nicht. Wenn ich ihn finde, trete ich in eine andere Welt und lasse den Journalismus hinter mir. Nur so kann ich diese beiden Rollen aushalten.

STANDARD: Im Journalismus zählen vor allem Fakten. Was fasziniert Sie an der Fiktion? Ist die Wirklichkeit nicht aufregend genug?

Kurbjuweit: Die Wirklichkeit an sich ist aufregender als die Fiktion, sie ist auch wahnsinniger. Die Geschichte eines Donald Trump kann nur das echte Leben glaubwürdig hervorbringen, nicht die Fiktion. Die Wirklichkeit ist eine gute Erschafferin von Stoffen, aber keine gute Erzählerin. Selbst Trump wird irgendwann langweilig. Die Stärke der Fiktion ist hingegen das Erzählen, das Verdichten, Verzögern, Zuspitzen, die Dramaturgie, das Formen eines Stoffes, das Erfinden der passenden Sätze, der passenden Szenen.

STANDARD: Seriöser Journalismus ist der Wahrheit verpflichtet. Nun hat ausgerechnet der preisgekrönte "Spiegel"-Reporter Claas Relotius einen Skandal ausgelöst, weil er Reportagen gefälscht hat. Im Journalismus geht es immer um die Jagd nach der besten Geschichte, der Druck ist groß, das Lesepublikum will eine mitreißende Geschichte lesen. Fördern aus Ihrer Sicht diese Verhältnisse nicht ein solches Handeln, auch wenn es moralisch verwerflich ist?

Kurbjuweit: Ich denke, das Lesepublikum hat einen Anspruch auf wahre Geschichten, die gut erzählt sind. Und dabei darf das gute Erzählen die Wirklichkeit nicht verfälschen. Es gibt naturgemäß einen Qualitätsdruck bei Qualitätsmedien wie dem Spiegel, aber es gibt eine klare Regel: Journalistische Qualität und Erfindung haben keine Schnittmenge. Leider wurde diese Regel schwer verletzt.

STANDARD: Sie haben 2017 einen Roman über die deutsche Revolutionärin Emma Herwegh geschrieben. Im Frühjahr ist nun Ihr Kriminalroman "Haarmann" erschienen. Fritz Haarmann war ein Serienmörder, ein Psychopath, der wegen Mordes an insgesamt 24 Buben und Männern vom Schwurgericht Hannover am 19. Dezember 1924 zum Tode verurteilt wurde. Warum wollten Sie einen Roman über einen Serienmörder bzw. über den "spektakulärsten Kriminalfall der deutschen Geschichte" schreiben?

Kurbjuweit: Thomas Schühly, der Produzent des ausgezeichneten Films Der Totmacher, ist ein Freund von mir. Der Film erzählt die Geschichte Haarmanns anhand eines Gesprächs mit einem Psychologen. Thomas und ich haben viel über den Stoff geredet, ich habe dazu gelesen und war fasziniert, nicht so sehr von dem Gemetzel, das Haarmann angerichtet hat, mehr von den historischen Umständen.

STANDARD: Haarmann hat junge, mittellose Männer, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen, brutal ermordet. In welchen gesellschaftlichen Verhältnissen wurden diese Morde begangen bzw. gibt es aus heutiger Sicht eine schlüssige Erklärung für diese grauenvollen Taten?

Kurbjuweit: Es gibt mehrere Erklärungen. Die Menschen hatten den Ersten Weltkrieg und die Spanische Grippe durchgemacht. Millionen waren gestorben, die Gesellschaft war verroht, war an Gewalt und Tod gewöhnt. Zudem stammten die meisten Opfer aus unteren Schichten, deren Anliegen weniger ernst genommen wurden. Und viele der Jungs waren homosexuell, stammten zum Teil aus dem Strichermilieu. Manche Leute waren wohl ganz froh, wenn die verschwanden, auch bei der Polizei.

STANDARD: Sie beschreiben im Roman die Kindheit des späteren Serienmörders Fritz Haarmann. Er wurde von seinem Vater regelmäßig verprügelt, während die bettlägerige Mutter ihrem Sohn nicht zu Hilfe eilen konnte. Haben die traumatischen Kindheitserfahrungen aus diesem Menschen einen Psychopathen gemacht?

Kurbjuweit: Das liegt nahe. Die Familienverhältnisse waren brutal. Es wurde geschlagen, betrogen, prozessiert. Nur die Mutter war für den jungen Fritz lieb und rein. Haarmann hatte zu manchen Opfern zunächst ein liebevolles Verhältnis, das Prinzip Mutter, dann hat er sie misshandelt und getötet, das Prinzip Vater. Beides kam in den Taten zusammen.

STANDARD: Was hat Haarmann aus Ihrer Sicht angetrieben?

Kurbjuweit: Er hatte einen unbändigen Sexualtrieb. Und er hatte den krankhaften Drang, die Jungs in der Ekstase totzubeißen. Das war ihm bewusst, und deshalb ist er mit manchen Jungs lieber nicht ins Bett gegangen. Er wollte, dass sie leben. Bei anderen war es ihm egal. Und dann hat er gemerkt, dass er damit durchkommt. Also hat er weitergemacht.

STANDARD: Der Fall Haarmann ist sehr gut dokumentiert, auch sein Gerichtsverfahren. Sind Sie im Laufe der Recherchen auf neue Fakten und Facetten der Geschichte gestoßen?

Kurbjuweit: Nicht wirklich neue Fakten, aber bislang spielte die politische Dimension des Falls in der künstlerischen Bearbeitung kaum eine Rolle, die desolaten Zustände in der Weimarer Republik, die Korruption bei der Polizei, die Haarmann begünstigte. Dies ist meines Erachtens neu in der Wahrnehmung dieses Falls.

STANDARD: Warum haben Sie einen Kriminalroman mit einem realen Hintergrund geschrieben? Wäre es nicht viel einfacher, einen Plot zu erfinden, anstatt einen Text an historische Begebenheiten anzupassen?

Kurbjuweit: Der Reiz war die Mischung. Ich habe einen Kommissar erfunden, der für mich in die Welt der realen Zwanzigerjahre eingetaucht ist wie ein Avatar. Mit Robert Lahnstein habe ich eine Weile gleichsam in der Vergangenheit gelebt. Herrlich.

STANDARD: Sie reisen sehr viel. Welche Rolle spielt das Unterwegssein für Ihre schriftstellerische Arbeit?

Kurbjuweit: Meine Bücher und Drehbücher entstehen zu einem großen Teil im Zug. Ich fahre gerne Zug, meinetwegen auch sechs Stunden lang. Ich schreibe, schaue aus dem Fenster, denke nach, verliere mich an die Schönheit einer Landschaft und kehre mit ein paar Gedanken zurück, schreibe weiter.

Dirk Kurbjuweit, "Haarmann. Ein Kriminalroman". 22,– Euro / 320 Seiten. Penguin-Verlag, 2020
Cover: Penguin Verlag

STANDARD: Gibt es einen Ort, an den Sie immer wieder zurückkehren, weil er Sie in Hinblick auf Ihre schriftstellerische Arbeit inspiriert?

Kurbjuweit: Ich mache gerne Schreibklausuren am Irrsee bei Salzburg, wo meine Freundin Johanna einen wunderbaren Gasthof führt, den "Seewirt". Sie hat ihn mir mal während ihrer Winterpause zum Schreiben überlassen. Ich war ganz alleine in einem stillen, leeren Hotel. Natürlich musste ich manchmal an Shining denken, einen Film, den ich mehrmals abgebrochen habe, weil er mir zu gruselig war. Aber die Klausur am Irrsee habe ich knapp überlebt und bin sogar gut vorangekommen. Weil ich Johanna so mag und mir der Ort viel bedeutet, spielt der Irrsee eine Rolle im Haarmann.

STANDARD: Gibt es neue Buchprojekte, und werden Sie den heurigen Sommer mit Schreiben verbringen?

Kurbjuweit: Nein. Die letzten Monate im Homeoffice haben mich sehr gefordert, und ich werde mit meiner Familie an den Irrsee fahren, in ein volles, lebendiges Hotel, und gar nichts machen, außer auf den See schauen, im See baden und mit Johanna plaudern. (Gerlinde Tamerl, 19.7.2020)