Boochani konnte sich in Neuseeland zum ersten Mal seit langem neue Schuhe kaufen.

Foto: Urs Wälterlin

In seinem Buch beschreibt der Autor die unmenschlichen Zustände in den Internierungslagern für Flüchtlinge in Australien.

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Für den Geschundenen liegt das Glück im Entkernen eines Granatapfels. Behrouz Boochani greift sich einen roten Kern nach dem andern. Er kaut voller Genuss. Nichts, sagt der 36-Jährige, sei ihm jetzt wichtiger, als ein normales Leben führen zu können. "Einen Kaffee kochen. Mit Freunden kochen." Oder einen Granatapfel essen. "Diese Frucht erinnert mich an meine Heimat Iran", sagt er.

Sieben Jahre ist es her, seit ihn die Liebe zu seiner kurdischen Kultur beinahe die Freiheit gekostet hätte – und vielleicht sogar sein Leben. Als Autor und Journalist einer iranischen-kurdischen Zeitung war er ins Fadenkreuz des iranischen Geheimdienstes geraten. Kollegen wurden verhaftet. Mithilfe eines Schleppers setzte sich Boochani nach Jakarta ab. Doch Indonesien sei alles andere als sicher gewesen für Flüchtlinge. So versuchte er, auf überfüllten, maroden Fischerbooten zur australischen Weihnachtsinsel zu gelangen. "Ich hatte den Tod akzeptiert", sollte Boochani später die Horrorfahrten durch die gefährlichen Gewässer des Indischen Ozeans beschreiben.

Boochani rollt sich eine Zigarette. Er hat die schlanken Finger eines Pianisten. Doch seine Kunst sind die Worte. 2018 schrieb er No Friend But the Mountains – und wurde damit zum Bestsellerautor und zum damals wohl bekanntesten Flüchtling der Welt. Eine begeisterte Literaturkritik folgte der anderen. Das Buch beschreibt den Alltag im von Australien finanzierten und teilweise geführten Flüchtlingslager auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea – dem "Gefängnis", wie Boochani es stoisch nennt. Sechs Jahre lang war er dort eingesperrt, mit hunderten anderen. Die Internierten sind Opfer der australischen Politik der Zwangsfesthaltung von Bootsflüchtlingen: früher in von Stacheldraht und Elektrozäunen umgebenen Lagern auf australischem Festland, später in desolaten Camps auf Manus und Nauru, tristen Inseln im Pazifik.

Stumme Traurigkeit

Boochani friert. Es ist kühl an diesem Morgen im Norden von Neuseeland, eine Brise weht. Ein Steinwurf entfernt ist das Meer, ein fast menschenleerer Strand. Also wird das Interview fortgesetzt, während Boochani im Bett liegt. Er ist ein schlanker Mann, seine Augen stechend, graublau, eingefallen. Boochani wirkt zeitweise verängstigt, verfolgt von den Dämonen seiner Vergangenheit. Immer wieder fällt er in eine stumme Traurigkeit. Sein Körper schmerze oft, sagt er. Jahre schlechter Ernährung und großer Entbehrungen fordern ihren Tribut. "Ich bin müde, immer sehr müde, körperlich und geistig." Boochani wohnt in einem "Safe House", etwa eine Stunde von der Stadt Auckland entfernt, hinter Büschen und Bäumen, versteckt vor der Welt.

Im Frühjahr 2019 hatte Australien auf Druck von Papua-Neuguinea sein Lager auf der Insel Manus schließen müssen – die brutale Behandlung von Menschen sei verfassungswidrig, hatte ein Gericht in Port Moresby entschieden. Die australische Regierung war frustriert. Boochani und seine Kameraden wurden in die Hauptstadt verlegt. Dort gelang ihm ein Coup. Er nahm eine Einladung zu einem Literaturfestival in der neuseeländischen Stadt Christchurch an.

Mit einem Besuchervisum und einem speziell für Flüchtlinge ausgestellten Reisedokument flog er nach Auckland. Um nicht in Australien zwischenlanden zu müssen – "ich hatte Angst, verhaftet zu werden" –, machte er einen 35-stündigen Umweg über Manila. In Neuseeland wurde er über Nacht zum Superstar. Medien suchten seinen Kontakt. Interviews, jeden Tag ein Vortrag. Unter dem Schutz von Leibwächtern. Denn was er zu erzählen hatte, sollte die Welt empören und schockieren: Australien, bekannt für schöne Strände, ist ein Land, das internationale Vereinbarungen missachtet, Menschenrechte mit Füßen tritt und Unschuldige – selbst Kinder – jahrelang einsperrt.

Antrag auf Asyl

Endlich hebt Boochani seine sonst melancholisch-ruhige Stimme. "Australien konnte mich nicht demütigen. Ich habe Australien gedemütigt!"

Spaziergang am Strand. Behrouz Boochani genießt die Weite. "Wunderschön, wunderschön", sagt er, mit fast kindlicher Freude. Er möchte hierbleiben. Er hat einen Antrag auf Asyl gestellt – die neuseeländischen Behörden sind daran, sein Gesuch zu prüfen. Neuseeland ist für Boochani Freiheit. Freiheit, das ist für ihn, sich bewegen zu können, ohne Gefahr zu laufen, in einen Stacheldraht zu fallen.

"Völlig überfüllt" sei das Lager gewesen, mit Hunderten von Internierten, und "so, so schmutzig. Man musste sich entscheiden, Mensch zu bleiben oder zum Tier zu werden." Boochani, der Journalist, wird zum Chronisten der Unmenschlichkeit. Unablässig tippt er im Geheimen Worte in ein geschmuggeltes Mobiltelefon, erzählt von endemischer Depression im Lager, vom Selbstmord seiner Freunde, der täglichen Gewalt, dem schlechten Essen. Er beschreibt die verdreckten Klos und Böden, in deren Spalten das Sperma masturbierender Gefangener trocknet.

Satz um Satz schickt er via Whatsapp an Unterstützer in Australien. Ein Buch entsteht.

Kein Name, nur eine Nummer

"Wir verloren unsere Identität, unsere Humanität. Insassen hatten keinen Namen, nur eine Nummer", reflektiert Boochani, als ihm der Wind die langen schwarzen Haare ins Gesicht bläst. Das ganze System habe auf Angst basiert. Angst als Mittel der Kontrolle – "von uns, aber auch der lokalen Bevölkerung. Schon bevor wir ankamen, war ihnen gesagt worden, wir seien gefährliche Verbrecher – und umgekehrt."

Die Einstellung der australischen Wärter zur Arbeit sei gewesen, "ein Mistkerl zu sein". Übergewichtig, schweißgebadet, gelangweilt, hasserfüllt. Viele seien Ex-Soldaten mit jahrelanger Kampferfahrung in Afghanistan und im Irak. "Sie hatten Menschen getötet. Ein Mörder bleibt ein Mörder", sagt Boochani. Die vielen Regeln aber seien "die schlimmste Form von Folter gewesen". Sinnlose Vorschriften, Überwachung, Bürokratie. Medizinische Behandlung, falls überhaupt vorhanden, sei als Druckmittel benutzt worden, um die Gefangenen gefügig zu machen. Internierte starben an harmlosen Krankheiten und Infektionen, weil ihnen wochenlang Hilfe verwehrt wurde. "Ich habe Furchtbares gesehen", sagt Boochani. Und dann der Hass.

"Das System hat den Hass unter den Gefangenen geschürt", sagt er. Internierte seien bewusst gegeneinander aufgestachelt worden. Stundenlanges Anstehen für zu wenig Essen. Nur lauwarmes Trinkwasser. "Es gab eine Handvoll Orangen für viele Männer. Dann mussten wir uns um sie prügeln." Oder Einwegrasierer. "Alle paar Wochen wurden sie ausgeteilt, zu wenige." Wieder Prügeleien. Die Schwächsten trugen die längsten Bärte.

Keine Medien zugelassen

Es wäre einfach, Boochanis Erfahrungen als übertrieben abzuschreiben, motiviert von Rachsucht. Denn eine unabhängige Verifizierung ist nicht möglich. Medien sind in den Lagern nicht zugelassen. Die australische Regierung äußert sich nicht oder weist Kritik an den Zuständen pauschal zurück. Doch Berichte ehemaliger Mitarbeiter und Vertreter humanitärer Organisationen bestätigen seit Jahren, was Boochani beschreibt. Unmenschlich. Unhaltbar. Lebensbedrohend. So das Fazit aller "Whistleblower". "Australien behandelt diese Menschen nicht als Menschen, sondern noch schlechter, als es seine Kriminellen behandelt", so Professor David Isaacs, Kinderarzt aus Sydney, nach einem Lagerbesuch.

Boochani steht barfuß im nassen Sand. Er hat seine neuen Schuhe ausgezogen. Schuhe, die er sich endlich kaufen konnte. Eine dieser kleinen Freuden eben – "auf Manus hatten wir keine Schuhe". Er will nicht darüber spekulieren, wie seine Zukunft aussehen wird. Er könnte zwar in den USA Asyl erhalten, sieht das Land wegen Präsident Donald Trump aber "nicht als guten Ort für Flüchtlinge". So bleibt er vorerst in Neuseeland, mit seinem inzwischen abgelaufenen Visum, und hofft auf einen positiven Bescheid der Asylbehörden. Wo er auch immer ende, das Wichtigste sei, dass er die Geschichte des Horrors weitererzählen könne. "Ich muss das System der Zwangsinternierung von unschuldigen Flüchtlingen bloßstellen und ändern." Das Bloßstellen zumindest ist ihm mit dem Buch gelungen.

"Nein, ich hasse Australien nicht", versichert Boochani. Doch sei er tief enttäuscht. Obwohl bekannt sei, wie brutal die Menschen in den Lagern behandelt werden, werde die Politik der Zwangsinternierung von Bootsflüchtlingen dort weiterbetrieben. (Urs Wälterlin, 18.7.2020)