Mit Maßnahmen wie Mund-Nasen-Schutz und der Abstandsregel lässt sich aber auch das Risiko auf Flughäfen und Bahnhöfen reduzieren.

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Derzeit ist es nur Spekulation: Wann und ob überhaupt eine zweite Welle kommt und wie massiv sie werden könnte – das weiß derzeit niemand. Die Vorgaben der Politik und die Disziplin der Menschen haben im Frühling letztendlich dazu geführt, dass die Zahl der Neuinfektionen gesunken ist. Am Freitag kündigte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) eine Entscheidung der Regierung über eine Wiedereinführung der Maskenpflicht für kommenden Sonntag an.

Welche Maßnahmen, und vor allem in welcher Kombination, tatsächlich wirksam waren, ist bislang nicht eindeutig geklärt. Expertinnen und Experten aus Medizin und Public-Health-Forschung wissen jedoch aus ersten Studien, was den Ausschlag gegeben haben könnte. Sie beantworten die derzeit wichtigsten Fragen zur Vermeidung einer zweiten Welle.

Brauchen wir schnellere und mehr Tests?

Um neue Ausbrüche rechtzeitig zu erkennen, wird in Österreich derzeit großflächig getestet. Rund 6000 bis 7000 Tests sind es täglich.

Eva Rehfuess, Leiterin des Lehrstuhls für Public Health und Versorgungsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München hält häufiges Testen und die schnelle Verfügbarkeit von Tests für wichtig. Dennoch sei immer auch die Frage relevant, wer getestet wird. Bei Menschen mit Symptomen, Kontaktpersonen oder dem Personal in Pflegeheimen seien Tests sinnvoll. Gebe es aber insgesamt – wie in der aktuellen Situation – wenige Fälle in der Bevölkerung und werden vermehrt Menschen ohne Risikoprofil getestet, komme es zu vielen falsch-positiven Ergebnissen, sagt Rehfuess.

Diese Problematik kennt auch Andreas Sönnichsen vom Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien: "PCR-Tests sind nicht hundertprozentig sicher. Die Quote für das richtige Erkennen der Gesunden liegt bei 98,5 Prozent." Demnach ist bei manchen der Test positiv, obwohl die Person gar nicht infiziert ist. Das entspreche in etwa jener Zahl, die täglich als Neuerkrankungen gemeldet wird.

"Wir tappen im Dunkeln, wie viele richtig positiv Getestete da nun wirklich dabei sind", sagt Sönnichsen. Falsche negative Ergebnisse gebe es hingegen weniger, das bestätigt auch Rehfuess. Beide Experten sprechen von einem Dilemma. "Wenn wir mit dem Testen aufhören, riskieren wir, dass uns die Fälle, die es noch gibt, durch die Lappen gehen", sagt Sönnichsen. Er plädiert dennoch dafür, es zu riskieren: "Sonst verharren wir bis in alle Ewigkeit in diesem Semi-Lockdown."

Sollte für Supermärkte wieder die Maskenpflicht eingeführt werden?

Masken reduzieren die Anzahl der Tröpfchen, die beim Husten und Sprechen in die Umgebung geschleudert werden und über die eine Ansteckung mit Sars-CoV-2 häufig passiert. Wer eine Maske trägt, schützt damit seine Mitmenschen. Gesundheitsminister Rudolf Anschober plädierte am Freitag erneut dafür, in engen, geschlossenen Räumen weiter Maske zu tragen. Kanzler Kurz kündigte am Freitag in der Orf "Zeit im Bild" eine Entscheidung über eine Wiedereinführung der Maskenpflicht für kommenden Sonntag an. Die Maskenpflicht sei "definitiv eine Möglichkeit, etwas das notwendig werden kann."

Das sieht auch Public-Health-Forscher Florian Stigler so: "Da diese Maßnahme recht billig und wenig einschränkend ist, sollte sie ruhig vermehrt genutzt werden, insbesondere in engen, schlecht belüfteten Innenräumen."

Die Experten halten die Masken übereinstimmend für einen wichtigen Schutz, vor allem im Herbst und im Winter. Es gehe vor allem darum, sie mit Sinn und Verstand im Alltag einzusetzen und die Situation selbst realistisch einzuschätzen.

Wo etwa viele Menschen, die sich nicht kennen, dicht gedrängt sind, in der U-Bahn, ist die Maske auf jeden Fall sinnvoll. Sind in einem Abteil oder Großraumwagen nur zwei Menschen, könne man auch darauf verzichten, sagt Public-Health-Experte Sönnichsen.

Diese Freiwilligkeit beim Maskentragen, von der die Experten sprechen, funktioniere in Österreich derzeit allerdings nicht, konstatierte vergangene Woche Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres. Er forderte die Politik auf, die Maskenpflicht für geschlossene Räume, wie Geschäfte und Restaurants, wieder einzuführen. Dort, wo viel gesprochen oder gesungen werde, komme es schnell zu vielen Ansteckungen, falls jemand infiziert sei.

Sollte es klarere Entscheidungen über Schließungen geben?

Auch Expertinnen und Experten haben keine klaren Antworten bei der Frage der Schul- und Kindergartenschließungen. Gleich den gesamten Kindergarten zu schließen, wenn es einen Verdachtsfall gibt, hält Sönnichsen für übertrieben und im Moment für nicht gerechtfertigt.

Das sieht offenbar mittlerweile auch die Stadt Wien so: Sie hat am Freitag verfügt, dass bei einem Verdachtsfall nicht gleich der gesamte Kindergarten oder die Schule schließen dürfe. Gibt es bei einem Kind einen Corona-Verdacht, dürfen jene, die mit ihm in Kontakt waren, weiter den Unterricht besuchen oder im Kindergarten betreut werden – bis das Testergebnis des betroffenen Kindes vorliegt. Die Begründung: Bisher waren weniger als fünf Prozent aller Kinder, die Covid-19-Symptome zeigten, tatsächlich infiziert.

Das empfiehlt auch Public-Health-Experte Sönnichsen. Eva Rehfuess differenziert noch mehr. Vielerorts habe man in dieser Pandemie bereits sinnvolle Strategien entwickelt – etwa in Schulen, wo Klassen halbiert und Pausen gestaffelt wurden. In diesen Fällen reiche es, nur die direkt betroffenen Kinder in Quarantäne zu schicken. Nur wenn ein infiziertes Kind zu allen anderen Kindern Kontakt hatte, sei es sinnvoll, die gesamte Institution zu schließen. Man sollte also von Fall zu Fall entscheiden, meinen die Experten – und Schließungen auch ebenso rasch wieder aufheben.

Welche Regeln sollen in der kalten Jahreszeit für die Gastronomie gelten?

Weniger soziale Kontakte, Masken tragen, Abstand halten und gut lüften – das sind die Maßnahmen, die uns nach Meinung der Experten über den Winter bringen. Damit ist freilich noch nicht alles gut: Enge Lokale mit niedrigen Decken etwa stellen ein Problem dar. Hier können sich Aerosole besonders leicht verbreiten.

Diese kleinsten Partikel, ein heterogenes Gemisch aus festen und flüssigen Bestandteilen in der Luft, die sich dynamisch verändern, scheinen bei der Verbreitung des Virus laut neuesten Forschungsergebnissen eine Rolle zu spielen.

Sönnichsen appelliert vor allem an das Verantwortungsbewusstsein der Menschen: "Geh nicht hin, wenn du Symptome hast, arbeite nicht als Barkeeper, wenn du selbst hustest", sagt er. Après-Ski werde dennoch auch im kommenden Winter stattfinden, glaubt der Experte – auch ohne Maske: "Wenn dann wieder Cluster entstehen, antworten wir mit lokalen, nicht nationalen, Maßnahmen."

Wie sollen wir mit Rückkehrern von Urlaubsreisen umgehen?

Am Anfang der Pandemie waren Reisebeschränkungen sinnvoll, sagt die Münchner Expertin Rehfuess, die derzeit an einer systematischen Übersichtsarbeit zum Thema Reisebeschränkungen arbeitet.

Jedoch: "In Europa hätte man die Grenzen vermutlich schon früher wieder öffnen können." Auch hier hänge das jeweilige Risiko wieder vom Verhalten des Einzelnen ab. Eine Urlaubsreise mit dem eigenen Pkw in ein Ferienhaus in Schweden erhöht nicht das Risiko. Reisen mit Flugzeug oder Zug, Party machen in Clubs oder der Urlaub in der Hotelburg mit vielen sozialen Kontakten hingegen schon.

Mit Maßnahmen wie Mund-Nasen-Schutz und der Abstandsregel lässt sich aber auch das Risiko auf Flughäfen und Bahnhöfen reduzieren. Sönnichsen würde derzeit nicht nach Brasilien, in die USA oder auf den Balkan reisen. Für die Experten stellt sich die Frage, wie sehr Reisen reglementiert oder stattdessen an die Vernunft der Menschen appelliert wird – "es gilt, einen richtigen Mittelweg zu finden."

Klaus Markstaller, Intensivmediziner an der Med-Uni Wien, ist hingegen besorgt: "Um uns herum entwickeln sich die Zahlen sehr besorgniserregend. Wenn wieder mehr Reisen stattfinden, ist es unumgänglich, dass asymptomatische Virenträger dabei sind. Die Frage ist, wie schnell man sie findet und reagieren kann." Der Experte glaubt, ein niederschwelliges Kontrollieren der Zugänge ins Land in einem überschaubaren Zeitrahmen wäre eine Überlegung wert.

Kommt eine zweite Welle?

Die Antwort auf diese Frage ist reine Spekulation. In diesem Punkt sind sich alle Experten einig. Viele sind der Meinung, dass Österreich auf ein erneutes Ansteigen der Infektionszahlen nun besser vorbereitet ist. Testkapazitäten können schnell hochgefahren werden, und der medizinische Betrieb hat sich für einen möglichen Ansturm gewappnet. Auch die Bevölkerung hat "richtiges", infektionsvermeidendes, Verhalten gelernt.

Die Prognose der befragten Fachleute: Es werde weiter lokale Ausbrüche geben, die man auch mit lokalen Maßnahmen wieder in den Griff bekomme. Zur Prävention müssten freilich alle beitragen: "Die Bevölkerung kann hier mehr Verantwortung übernehmen", befindet Intensivmediziner Markstaller.

Die Voraussetzung zur Vermeidung einer zweiten Welle ist so banal wie schwierig: Alle, die durch diese Gesundheitskrise gefordert sind – Mediziner, Pflegepersonal Krankenhausträger und in Letztverantwortung die Politik –, müssen bestmöglich auf den Worst Case vorbereitet sein. (Bernadette Redl, 18.7.2020)