Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist nicht nur die Mächtigste im Kreis der 27 Regierungschefs. Als derzeitige Ratsvorsitzende soll sie auch für Annäherung sorgen.

Foto: EPA/FRANCOIS LENOIR

Das Budget eines Landes ist nichts anderes als in Zahlen gegossene Politik einer Regierung. Diese so einfache wie eingängige Formel ist den meisten Bürgern in ihren jeweiligen Nationalstaaten wohlvertraut.

Sie bringt eine fundamentale Regel in jedem Staatswesen auf den Punkt. Man kann noch so viele und gute Ideen, Wünsche oder Programme haben, um einen Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft zu gestalten, zu verbessern, zu modernisieren, Krisen zu meistern: Wenn das Geld dafür fehlt, bleibt manches Programm oder Vorhaben eine Illusion.

Wie das aufgelöst wird, dafür gibt es auf den nationalen (und regionalen) Ebenen altbewährte Abläufe. Nach jeder Wahl findet sich in der Regel eine parlamentarische Mehrheit von Parteien. Man verständigt sich auf ein Gesamtprogramm, das man in einer Legislaturperiode umsetzen will.

Nachgebessert bei Krisen

Die finanziellen Möglichkeiten werden gecheckt – und los geht’s mit dem politischen Gestalten. Bei schweren Krisen, seien es Naturkatastrophen oder die Corona-Pandemie, wird nachgebessert.

Alles relativ überschaubar. Die meisten Menschen, die in einem Land leben, können das gut mitverfolgen, in ihrer Sprache, und sei es auch nur über TV-Hauptnachrichten. Im Prinzip nicht unähnlich ist es in Politik und Budgetgestaltung auch in der Europäischen Union. Alle vier Jahre wird gewählt, zuletzt im Mai vergangenen Jahres. Dann wird eine "Art Regierung" gebildet, die EU-Kommission, der seit Dezember 2019 Ursula von der Leyen als Präsidentin vorsteht. Diese gibt die gemeinsamen politischen Ziele und Prioritäten vor, bei deren Formulierung die Parteifamilien ideologisch kräftig mitreden.

Große globale Ziele

Und das alles muss in einen "mittelfristigen Finanzrahmen" (MFR) passen, der alle sieben Jahre erneuert wird (zuletzt im Jahr 2013), idealerweise modernisiert.

Und los ginge es mit einer kraftvollen europäischen Politik! Die könnte zum Beispiel mit dem "Green Deal" zur Bekämpfung des Klimawandels, der schwerpunktmäßigen Förderung der Digitalisierung auch global seit Monaten kräftig mitmischen. Das und noch viel mehr hat von der Leyen zu Beginn des Jahres im EU-Parlament in Straßburg angekündigt.

So weit die Theorie. Aber das spielt es im gemeinsamen Europa auch fast dreißig Jahre nach der Einführung des Binnenmarktes, der Abschaffung der Grenzkontrollen oder der Einführung einer gemeinsamen Währung nicht. Die Wirklichkeit der Union und ihrer 27 Mitgliedsländer sieht ganz anders, wenn es um die Entscheidungsfindung geht.

Träge Abläufe

Die Abläufe sind träge, die Willensbildung wegen ständiger Vetodrohungen einzelner Länder fast unmöglich geworden. Und wenn es ums Geld geht, beim Zahlen ebenso wie beim Nehmen von EU-Subventionen, dann läuft seit Monaten fast gar nichts mehr.

Das liegt nicht nur daran, dass die EU kein eigener Staat mit einer "echten" Regierung ist; oder weil es keine einfache klare Verfassung gibt, die jeder einfache Mensch versteht, sondern ein über Jahrzehnte entstandenes extrem komplexes Vertragswerk. Es liegt auch nicht daran, dass es keinen eigenen EU-Finanzminister gibt, der über nennenswerte EU-eigene Steuereinnahmen verfügt.

Komplex war die Gemeinschaft schon vor zwanzig Jahren. Der Hauptgrund, warum in der gemeinsamen politischen Gestaltung so wenig weitergeht, ausgedrückt in den Budgetzahlen, liegt vor allem am mangelnden politischen Willen der Regierungen bzw. an nationalen Egoismen. Und über das Formale hinaus liegt es daran, dass in einer extrem schwierigen Krisenzeit in der Welt und in Europa starke, prägende Führungsfiguren fehlen, die das Gemeinsame über das Trennende stellen wollen. Es fehlt an Persönlichkeiten mit Mut bis Übermut – an Leuten wie Helmut Kohl, Jacques Delors oder François Mitterrand, Staatsmänner aus Deutschland und Frankreich, die von Politikern aus kleineren EU-Ländern unterstützt wurden.

Kleine Brötchen

Es gibt einen Mangel an Regierungschefs, die langfristige Per¬spektiven über den Horizont eigener Interessen stellen. Genau das bildet sich am Ringen um den EU-Budgetrahmen für die nächsten sieben Jahre von 2020 bis 2027 ab, über den die 27 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten seit Freitagvormittag in Brüssel beim ersten physischen Zusammentreffen seit Ausbruch der Corona-Krise streiten und ringen.

Ungarns Viktor Orbán lehnt die Bindung von EU-Mitteln an Rechtsstaatlichkeit ab, der Niederländer Marc Rutte pocht auf strikten Sparkurs, der Italiener Giuseppe Conte auf der anderen Seite will Zuschüsse maximieren. Seit der Vorlage der ersten MFR-Pläne der Kommission vor zweieinhalb Jahren hat sich an Struktur und Volumen dieses Langfristbudgets nicht viel geändert. Es wurde auf zuletzt 1074 Milliarden Euro runterlizitiert, und es schien, als wäre Ratspräsident Charles Michel bereit, noch weiter zu reduzieren. Zulasten der Forschung.

Optimistischer Kurz

Die Haupthürde jedoch ist der sogenannte Wiederaufbaufonds. Der sollte, wie berichtet, mit 750 Milliarden Euro dotiert werden, zusätzlich zum regulären Budget, dürfte aber kleiner werden. In wochenlangen Gesprächen habe es Annäherungen gegeben, berichtete Bundeskanzler Sebastian Kurz, der für Irritation sorgte, weil er von "kaputten Systemen" in EU-Staaten sprach. Er sei dennoch "sehr optimistisch", dass es bald eine -Einigung geben könnte.

Das betonten auch Von der Leyen, Michel und Kanzlerin Angela Merkel. Sie und Frankreichs Präsident drängten am ersten Tag vehement darauf, dass die Partner sich bewegen.
Es gebe keinen Punkt, den man nicht im Kompromiss auflösen könne, meinte Kurz auf die Frage, ob es schon am Wochenende eine Lösung geben könnte. Ob dieses oder ein anderes Wochenende, das blieb offen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bezweifelt am Freitag, dass es überhaupt zu einer Lsöung kommen wird. "Ich habe nicht das Gefühl, dass wir einer Einigung näher kommen", sagte auch der tschechische Premier Andrej Babis. Aber: Alle – auch Hardliner Rutte – gelobten, sie wollten nicht ohne Ergebnis nach Hause fahren.

Am Freitag kam es jedenfalls noch nicht zum Kompromiss. Nach mehr als 12 Stunden wurden die Verhandlungen auf Samstag 11 Uhr vertagt. (Thomas Mayer aus Brüssel, red, 17.7.2020)