Kein Tag vergeht derzeit in Israel ohne Demonstration. Am Samstag gingen in mehreren Städten erneut tausende Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung zu demonstrieren, der sie vorwerfen, mit der Corona-Krise überfordert zu sein.

Demonstranten legten Strandtücher auf und räkelten sich im Badeanzug und mit Schwimmbrille in der Sonne, wobei sie Transparente hochhielten mit Aufschriften wie "Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken".

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Ein Demonstrant mit einer Maske, die Benjamin Netanjahu darstellen soll, fordert Handschellen für den Regierungschef.
Foto: REUTERS/Ammar Awad

Das Schwimm-Arrangement ist eine Anspielung auf die eher chaotisch eingeführten neuesten Beschränkungen: So ist der Aufenthalt am Strand am Wochenende verboten, unter der Woche hingegen erlaubt. Parks und öffentliche Plätze sind weiter zugänglich. Paradoxerweise wurde eine für den Tel Aviver Rabin-Platz angemeldete Demonstration am Samstag von der Behörde an den Strand verlegt – weil dort die Ansteckungsgefahr geringer sei, hieß es.

Im Stich gelassen

An den Demos nehmen auch immer mehr junge Menschen teil – ein großer Unterschied zu den früheren Anti-Netanjahu-Protesten, die von erfahreneren Aktivisten getragen waren. Viele, nicht nur regierungskritische, Israelis sind sauer: Die von der Regierung seit Monaten versprochenen Ausgleichszahlungen tröpfelten nur langsam und dürftig ein, heißt es. "Wozu zahlen wir eigentlich unser Leben lang Steuern, wenn wir vom Staat in einer solchen Notlage nicht unterstützt werden?", fragt der freiberufliche Musiker Yaron Goldman (Name von der Redaktion geändert, Anm.) im STANDARD-Gespräch. Zumal es die Regierung war, die lange Zeit zwar Bethäuser öffnen ließ, nicht aber Konzerthallen. "Das versteht kein Mensch", sagt Goldman.

Regierungschef Benjamin Netanjahu präsentierte sich während der ersten Welle als strahlender Frontmann, der sich in täglichen, mit Bibelbezügen gespickten Fernsehansprachen, ans Volk mit der Botschaft richtete, er habe dieses Virus schon im Griff und werde das Volk auch aus dieser Wüste führen.

Netanjahu verliert an Strahlkraft

Nun, dieser Pathos rächt sich jetzt. Nun, da die zweite Covid-Welle eher das Land im Griff hat als umgekehrt, richtet sich der Zorn der Menschen direkt gegen Benjamin "Bibi" Netanjahu. Auch wenn das Chaos, das derzeit in Israel regiert, nicht nur dem Regierungschef anzulasten ist, sondern eher der Vielzahl unterschiedlicher Meinungen im Gesundheitsapparat, in der Regierungskoaliton, aber auch in Netanjahus Likud-Partei selbst. Vom Ziehen an einem Strang kann in dem selbsterklärten "Corona-Kabinett" keine Rede sein.

Netanjahus Popularitätswerte rasseln in den Keller. Anfang April lobten knapp 70 Prozent der Israelis sein Krisenmanagement. Drei Monate später sind es nur noch 29,5 Prozent, die laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute angibt, Vertrauen in Netanjahu zu setzen. Sogar 75 Prozent sagen, sie seien enttäuscht oder verärgert angesichts der Corona-Bewältigung durch die Regierung.

Groß-Demo in der Hauptstadt, Prozess wird fortgesetzt

An der Groß-Demo in Jerusalem vergangenen Dienstag nahmen deshalb auch bekennende Wähler und Funktionäre der Netanjahu-Partei teil. Es sind Likud-Anhänger, die sich den Werten der Partei weiterhin verbunden fühlen, nicht aber einem Parteichef, der trotz schwerer Korruptionsvorwürfe nicht und nicht zurücktreten will.

Der Prozess, der laut Experten im besten Fall drei Jahre, womöglich aber länger als fünf Jahre dauern wird, geht am Sonntag in seinen zweiten Verhandlungstag. Wichtige Details für den Prozessfahrplan sollen an diesem Tag geklärt werden: Wie viele Zeugen werden wann gehört? Muss das Gericht Netanjahus Anwälten weitere Aktenteile liefern, wie diese verlangen – und wird sich dadurch das Beweisverfahren womöglich um weitere Monate verzögern? Generalstaatsanwalt Avichai Mendelblit hat im Vorfeld des zweiten Verhandlungstags dafür plädiert, das Verfahren so straff wie möglich zu halten: Vier Verhandlungstage pro Woche und zackige Befragungen. Die Verteidiger hingegen bestehen auf maximal zwei Verhandlungen pro Woche.

Gericht arbeitet weiter

Eigentlich hätte der Prozess ja bereits Mitte März starten sollen. Wegen des Lockdowns verschob er sich um zwei Monate. Dass es nun, da die zweite Welle das Land erfasst hat, erneut zu einer Gerichtsschließung kommt, hält Strafrechtsprofessor Gad Barzilai für wenig wahrscheinlich. "Maximal für zwei Wochen" sei ein solcher Justiz-Lockdown zu erwarten, sagt Barzilai vor Journalisten. Im Unterschied zur ersten Welle, als Israel noch von einem Übergangskabinett regiert wurde, gehört der Justizminister der nunmehr regierenden Großen Koalition nicht der Partei Netanjahus an, sondern dem Bündnis Blau-Weiß unter Benny Gantz, das sich stets äußerst kritisch gegenüber Netanjahus mutmaßliche Verwicklung in Bestechungsaffären geäußert hatte.

Bis der Strafprozess mit über 300 teils langwierigen Zeugenbefragungen ans Eingemachte geht, ziehen aber wohl noch Monate ins Land. Barzilai rechnet erst Ende Oktober mit dem Beginn des Beweisverfahrens.

Warten auf Den Haag

Druck lastet auf Netanjahu aber auch von ganz anderer Seite. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag soll demnächst bekanntgeben, ob er ein Verfahren gegen Israel und die Hamas einleitet oder nicht. Es geht um die Frage, ob ab 2014 von beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen wurden. In einem solchen Verfahren würde Netanjahu als langjährig verantwortlicher Regierungspolitiker wohl auch persönlich im Visier der Strafjustiz stehen. (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 19.7.2020)