Christoph Bauer sitzt dem Schöffensenat vor, der in einem Missbrauchsverfahren über die mögliche Schuld eines 78-Jährigen entscheidet.

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Wien – Das Leben im Gemeindebau hat durchaus einen gewissen dörflichen Charakter, wie sich im Verfahren gegen Rudi S. (Namen geändert, Anm.) zeigt. Der 78-Jährige lebt seit fast 40 Jahren in einem kommunalen Wohnbau im Süden Wiens. Nun ist er erstmals in seinem Leben vor dem Landesgericht für Strafsachen, genauer: einem Schöffensenat unter Vorsitz von Christoph Bauer. S. wird der sexuelle Missbrauch einer psychisch beeinträchtigten Person vorgeworfen – er soll eine Nachbarin manuell penetriert haben.

Sieht man den Angeklagten, drängt sich eine Assoziation mit einer Figur des Karikaturisten Manfred Deix auf oder mit einem Protagonisten eines Ulrich-Seidl-Films. Wie so oft vor Gericht zeigt sich aber, dass Äußerlichkeiten wenig zählen, denn der Fall scheint vielschichtig zu sein.

Das beginnt schon damit, dass Verteidiger Florian Kuch in seinem Eröffnungsplädoyer in den Raum stellt, dass das angeklagte Delikt aus zwei Gründen gar nicht erfüllt sein könne. Einerseits sei erst in einem anderen Zusammenhang in einem Gutachten festgestellt worden, dass Frau D., das mutmaßliche Opfer, eine leicht verminderter Intelligenz habe, was den Strafrahmen von ein bis zehn Jahren Haft begründet.

Angeklagter impotent

Tatsächlich sei die Frau voll geschäftsfähig und selbstständig und zeitlich und örtlich orientiert, argumentiert der Verteidiger – psychisch beeinträchtigt sei sie also nicht. Außerdem stellt Kuch in Abrede, dass sich sein Mandant "geschlechtlich erregen oder befriedigen" könne, wie es im Gesetz steht. Denn der Mann sei nach einer Krebsoperation seit Jahren impotent.

"Wie war denn der Erstkontakt mit Frau D.?", will Vorsitzender Bauer vom Angeklagten, der sich nicht schuldig bekennt, wissen. "Ich sitz mit meiner Verlobten immer wieder im Hof", erzählt der. Als Frau D. eingezogen sei, habe sie nie gegrüßt, das sei ihnen aber egal gewesen. Eines Tages sei sie doch zur Bank gekommen, man sei ins Plaudern gekommen.

Das Thema: der Gesundheitszustand von Frau D., die offenbar humpelt. "Sie hat erzählt, dass sie ein verkürztes Bein hat. Ich habe gefragt, warum sie dann keine orthopädischen Schuhe trägt", erinnert sich der Pensionist, der jahrelang im medizinischen Bereich gearbeitet hat.

Offenherzige Nachbarin

"Bei der Polizei haben Sie aber was anderes erzählt!", hält der Vorsitzende dem Angeklagten vor. "Da haben Sie gesagt, Frau D. wäre hergekommen und habe gesagt: 'Ich hab es gerne, wenn ich gefingerlt werde'!" – "Das war erst später, nicht der erste Kontakt", behauptet S. nun.

Zwischen dem Paar und Frau D. soll sich eine lose Freundschaft entwickelt haben, immer wieder sei D. zum Kaffee in die 35-Quadratmeter-Wohnung des Angeklagten und seiner Verlobten gekommen sein. Nachdem sich D. einen Laptop gekauft hatte, stellte sich heraus, dass sie technisch unbedarft gewesen sei, in unregelmäßigen Abständen habe sie den Angeklagten daher gebeten, ihr behilflich zu sein.

Immer in D.s Wohnung. "Ein Laptop hat ja die Eigenschaft, dass man ihn mitnehmen kann", stellt Vorsitzender Bauer fest. "Warum haben Sie ihr nicht in Ihrer eigenen Wohnung geholfen?", will er daher wissen. "Das Internet ist unterschiedlich. Ich hätte immer extra meinen PC zur Seite räumen und das Kabel umstecken müssen, sie hatte ein WLAN", argumentiert der Angeklagte.

Kontakt ein halbes Jahr unterbrochen

Der auch sagt, dass eigentlich er das Opfer gewesen sei. Die Frau sei ihm öfters körperlich nahe gekommen und habe ihm auch manchmal unmotiviert zwischen die Beine gegriffen. Dass sei ihm unangenehm gewesen, "ein halbes Jahr war ich bös und habe keinen Kontakt mehr wollen", behauptet er. Erst auf Bitten von D.s Mutter habe er sich bereiterklärt, den Kontakt wieder aufzunehmen.

2018 soll es dann zu dem sexuellen Kontakt gekommen sein, der aus Sicht der Staatsanwältin ein Missbrauch war, aus Sicht des Angeklagten quasi ein aufgezwungener moralischer Fehltritt. "Ich habe was bei ihrem Laptop repariert, da hat sie sich plötzlich die Leggings und die Unterhose ausgezogen. Dann hat sie sich neben mich gesetzt, meine linke Hand genommen und zwischen ihre Beine geführt und herumgerubbelt", erzählt er.

"Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen", gibt er zu. "Mit der rechten war ich noch mit dem Laptop beschäftigt, mit der anderen Hand habe ich sie bearbeitet", schildert der Pensionist. Nach zwei oder drei Minuten habe er seine Hand zurückgezogen und sie aufgefordert, sich wieder anzuziehen. "Die Verlockung war zu groß, und ich war zu deppert", fasst S. die Sache kurz zusammen. Frau D.s Reaktion laut seiner Darstellung: "Du gehörst ins Buch der Rekorde, ich bin dreimal gekommen."

Gesprächsthema im Gemeindebau

Bauer will wissen, warum D. nicht sagen sollte, dass es eine einvernehmliche Handlung gewesen sei. S. hat eine Theorie: Ihm sei die Sache zu viel geworden, nachdem D. begonnen hatte, im Haus herumzuerzählen, dass sie und der Angeklagte eine sexuelle Beziehung hätten. Er und seine Verlobte hätte D. daraufhin die Freundschaft aufgekündigt – drei Wochen später kam die erste einer Reihe von Anzeigen von D.s Seite. Dass die Frau nur eine verminderte Intelligenz habe, sei ihm nie aufgefallen, beteuert der Angeklagte.

Auch seine Verlobte und eine weitere Nachbarin schildern, dass D. es gewesen sei, von der die Avancen ausgegangen seien. "Sie war eine angenehme Frau", sagt die Verlobte von S. sogar, und, dass sie ihrem Partner vertraut habe. Auf Bauers Nachbohren schildert sie dann doch, dass D. ihr "anlassig" vorgekommen sei. Aber: "Ich wollte es nicht sehen."

Die Nachbarin kann sich sogar an ein Gespräch im Gemeindebauhof erinnern, wo D. dem Angeklagten zweimal die Hand auf den Oberschenkel gelegt habe. "Ich habe ihr dann auf die Finger geklopft, und sie hat deppert gelacht", schildert sie. "Der Herr S. ist ein guter Mensch und hilfsbereit", bricht sie eine Lanze für den Nachbarn.

Senat hat "große Zweifel"

Frau D. wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit kontradiktorisch vernommen, aus Bauers Urteilsbegründung geht hervor, dass bei dieser Befragung Widersprüche aufgetaucht sein müssen. Denn der Senat spricht S. nicht rechtskräftig frei. "Es war nicht einfach", sagt der Vorsitzende. Für das Gericht gebe es "große Zweifel, was passiert ist und was nicht". Frau D. sei aussagetüchtig gewesen, habe aber beispielsweise bei der psychiatrischen Sachverständigen noch von Geschlechtsverkehr gesprochen, nun nur noch vom angeklagten Delikt. Für eine Verurteilung ohne begründeten Zweifel reiche es daher nicht. (Michael Möseneder, 20.7.2020)