Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron haben sich vorsichtig optimistisch zu den Einigungschancen beim EU-Gipfel geäußert. Merkel sagte am Montag im Brüsseler Ratsgebäude, es gebe "Hoffnung, dass es heute vielleicht zu einer Einigung kommt oder eine Einigung möglich ist". Macron äußerte sich ähnlich, fügte aber hinzu, er bleibe "sehr vorsichtig".

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron äußerten sich hoffnungsvoll zu einer Einigung beim EU-Gipfel.
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"Wir haben gestern Nacht nach langer Verhandlung einen Rahmen für eine mögliche Einigung erarbeitet. Das ist ein Fortschritt", so Merkel. Frankreichs Staatspräsident will an ihrer Seite weiterkämpfen. In den nächsten Stunden gehe es um die Bindung der Vergabe der Mittel aus dem Aufbaufonds an Klimakriterien sowie die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, so Macron. Es geht in den Verhandlungen auch um das EU-Finanzpaket bis 2027.

Gipfel läuft zwei Tage länger als geplant

Die Gespräche zwischen den Staats- und Regierungschefs wurden am Montag gegen 6 Uhr unterbrochen und sollen am Nachmittag wieder aufgenommen werden, wie der Sprecher von EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter mitteilte. Zunächst sprach er von 14 Uhr, verschob den Termin dann aber wenig später auf 16 Uhr. Nachdem es hieß, dass es um 17 Uhr losgehen würde, verkündete Michels Sprecher kurz vor dem anberaumten Termin eine erneute Verschiebung – auf 18 Uhr. Damit läuft das am Freitag gestartete Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs bereits zwei Tage länger als geplant. Michel versucht auf Hochtouren, bis zur Wiederaufnahme des Gipfels den Weg für einen Kompromiss zu ebnen.

Der französische Staatspräsident will "entschlossen" in die Verhandlungen gehen, wie er in den frühen Morgenstunden ankündigte. Große Fortschritte sind Macron zufolge bereits hinsichtlich der Funktionsweise des Fonds gemacht worden. Das sensibelste Thema der letzten Tage seien dessen Gesamtvolumen und der Anteil der nicht rückzahlbaren Zuschüsse gewesen.

Höhe der Zuschüsse als Zankapfel

Auch hier habe es Fortschritte gegeben, nun müsse man in die Details gehen. Ein neuer Vorschlag müsse ein Kompromiss sein, "wo sich jeder bewegt", aber der Ehrgeiz für eine große Politik der Zukunft Europas bewahrt werde", sagte Macron und zählte die Klimapolitik, die Digitalisierung und Maßnahmen für die Jugend auf.

Die Staats- und Regierungschefs hatten sich nach tagelangem Ringen dem Vernehmen nach auf die genaue Dotierung des EU-Wiederaufbaufonds verständigt. Dieser soll nun zu 390 Milliarden Euro aus Zuschüssen bestehen und zu 360 Milliarden Euro aus Krediten. Damit wurde die zunächst von Deutschland und Frankreich definierte rote Linie von 400 Milliarden Euro knapp unterschritten.

Neue Entwicklung: Rutte hält Kompromiss nun für möglich

Fast alle anderen Mitgliedsstaaten tragen diese mit – außer Finnland, Schweden, Dänemark, Österreich und den Niederlande. Diese fünf Länder hatten den Gipfel am Samstagabend an den Rand des Scheiterns gebracht. Sie hatten ein Volumen von 350 Milliarden Euro als Zuschüsse als letztes Angebot formuliert und damit vor allem Macron zur Weißglut gebracht. Dieser griff Berichten zufolge im Plenum auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) frontal an und nahm eine seiner Telefonpausen als Beleg dafür, dass er sich mehr für Pressearbeit interessiere als für die Beratungen mit seinen EU-Amtskollegen. Angesprochen auf die Begebenheit, sagte Kurz: "Dass da bei manchen, wenn sie vielleicht wenig schlafen, irgendwann die Nerven blank liegen, das ist nachvollziehbar." Ansonsten hob der Kanzler den professionellen Umgang aller miteinander hervor.

Trotz der Position der Niederlande hält deren Ministerpräsident Mark Rutte einen Kompromiss auf dem europäischen Sondergipfel in Brüssel für möglich. "Es sieht hoffnungsvoller aus, als heute Nacht, als ich dachte: Es ist vorbei." Nach den Worten des Niederländers gibt es in zahlreichen Streitpunkten Kompromissvorschläge. Dennoch warnte der Rechtsliberale vor zu großem Optimismus. "Es kann auch immer noch schief gehen." Auch der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez die Hoffnung auf eine Einigung bei dem laufenden EU-Gipfel geäußert. "Es ist klar, dass wir eine Vereinbarung brauchen", sagte Sanchez am Montagnachmittag in Brüssel.

Und auch der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven geht guten Mutes in die nächsten Verhandlungen: "Es ist klar, dass es schwierig ist. Es ist sehr komplex. Aber ich erlebe einen aufrichtigen Willen bei allen, zu versuchen, ans Ziel zu kommen., sagte Löfven am Montagnachmittag dem schwedischen Fernsehsender SVT.

Frage der Rechtsstaatlichkeit

Neben dem Corona-Fonds war auch noch ein weiterer Streitpunkt offen: Ungarn und Polen wehren sich vehement gegen Pläne, die Auszahlung von EU-Budgetmitteln mit der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu verknüpfen. Beide Länder stehen wegen der Untergrabung von Werten wie der Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz seit Jahren in der EU am Pranger.

Der Gipfel ist bisher der längste seit einem legendären EU-Spitzentreffen in Nizza im Dezember 2000. Sollten die EU-Regierungschefs tatsächlich bis Dienstagnacht um 4.26 Uhr, tagen, würde dieser Rekord fallen. EU-Parlamentspräsident David Sassoli kritisierte das Ausbleiben einer Einigung: "Wir sind besorgt über eine Zukunft, in der die europäische Solidarität und die Gemeinschaftsmethode verloren gehen", erklärte der Italiener, der zugleich mit einem Veto des EU-Parlaments gegen eine den Erwartungen der Volksvertretung nicht entsprechende Einigung drohte.

"Nach drei Tagen und drei Nächten Marathon-Verhandlungen kommen wir jetzt in die entscheidende Phase", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie habe den Eindruck, dass die Staats- und Regierungschefs "wirklich eine Einigung wollen".

Drei Szenarien

Insidern zufolge dürfte der Gipfel am Montagabend – oder womöglich eher in der Nacht auf Dienstag – auf eines von drei Szenarien hinauslaufen. Entweder einigen sich die EU-Staats- und Regierungschefs endgültig auf die großen Linien des Paktes, wozu das Volumen und das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten, ein Rechtsstaats-Mechanismus und die Ausgabenobergrenzen des EU-Budgets von 2021 bis 2027 zählen. Die weiteren Details könnten im ersten Fall zur Ausarbeitung an die Finanzminister oder an Expertengremien delegiert werden.

Im zweiten Fall wäre aber noch ein weiterer Gipfel in ein bis zwei Wochen nötig, nämlich dann, wenn über die Interpretation der sogenannten "Verhandlungsbox", die Michel am Montag vorlegen will, noch weitere politische Differenzen bestehen. Im ungünstigsten dritten Fall – so rechnen Insider – würden sich die Staats- und Regierungschefs wieder in zahlreiche Einzelfragen verlieren und Teileinigungen wieder infrage gestellt. (APA, red, 20.7.2020)