In Mexiko-Stadt warnen Graffitis vor "Zonen mit besonderer Infektionstätigkeit". Im ganzen Land steigt die Zahl der Corona-Fälle weiter an – das Gesundheitssystem ist am Limit.

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Lateinamerika bekommt die Corona-Krise nicht in den Griff. Vier Monate nach Beginn der ersten Lockdowns auf dem Kontinent zeigt die Infektionskurve Mitte Juli in den meisten Ländern steil nach oben. Bei der Zahl der gesamten Todesfälle haben Brasilien und Mexiko Italien längst überholt. In beiden Ländern spielen die Staatschefs die Pandemie herunter, priorisieren die Exportwirtschaft und reisen ohne Mundschutz durchs Land. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro erkrankte selbst an dem, was er als "kleines Grippchen" abtut.

Nach dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro hat sich nach eigener Aussage jetzt auch der Sozialminister mit dem Coronavirus infiziert. Er ist – nach General Augusto Heleno, Chef des Kabinetts für institutionelle Sicherheit, und Energieminister Bento Albuquerque – der dritte Minister mit Corona in der Regierung des ultrarechten Bolsonaro, der vor zwei Wochen positiv getestet worden war.

77.851 ihrer Landsleute starben bisher an dem Virus, in Mexiko sind es offiziell 38.310.

Die Zahlen dürften nicht das wahre Ausmaß abbilden: Der "Economist" etwa verglich die Übersterblichkeit in verschiedenen Weltgegenden, basierend auf den offiziellen Sterberegistern. In Mexiko-Stadt liegt sie demnach seit Ende April zwischen 100 und 200 Prozent über dem Durchschnitt der zu erwartenden Todesfälle. Aber auch Länder und Regionen, die schon frühzeitig Ausgangssperren verhängten und dafür von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelobt wurden – wie Peru, Kolumbien oder Mittelamerika –, stehen vor dem Kollaps ihrer Gesundheitssysteme. In Brasilien werden viele Sterbefälle in den Favelas entweder gar nicht verzeichnet oder nicht auf Covid-19 untersucht.

Den Preis zahlen Mediziner

In Guatemala und Honduras dokumentierten Agenturen dieser Tage, wie Kranke auf Betten und in Rollstühlen auf Krankenhausfluren und in Innenhöfen "geparkt" werden; in Bolivien fehlt es an Särgen und Gräbern, sodass Familien oft bis zu einer Woche auf eine Bestattung warten müssen. In der Dominikanischen Republik bekommen die Spitäler nun die Rechnung dafür präsentiert, dass Politiker die Wahlen Anfang Juli nicht verschieben wollten. Auch in Buenos Aires, Santiago de Chile und Bogotá gehen die Infektionen nach vier Monaten Quarantäne kaum zurück.

Medizinisches Personal zahlt den höchsten Zoll – bis zu 20-mal höher ist ihre Sterberate. Ärztinnen und Ärzte fordern daher die Rückkehr zu strikten Quarantänen. Doch Lockdowns sind nicht mehr aufrechtzuerhalten; immer stärker wird der soziale und wirtschaftliche Druck. Vielerorts kam es zu ersten Demonstrationen gegen die Regierungen, von Mexiko-Stadt über La Paz und Santiago de Chile bis Buenos Aires. Die Staaten sind finanziell zu schwach, um all die Firmen und Menschen aufzufangen, die in finanzielle Nöte kamen. Die Zahl der Armen in Lateinamerika könnte durch Corona um 45 Millionen steigen, das BIP fällt auf das Niveau von vor zehn Jahren, und 47 Millionen Arbeitsplätze sind bedroht, hat die Uno ermittelt.

Die Schwächen offengelegt

"Unsere Region steht vor denselben Problemen wie der Rest der Welt, aber mit weniger Optionen", schreibt der argentinische Arzt Carlos Javier Regazzoni im Portal Think Global Health. "Ohne massives Testen und Nachverfolgen und eine Strategie zur Armutsbekämpfung wird es keinen Ausweg geben aus der Spirale von mehr Quarantäne, Armut, Quarantänebrechern und einer Zunahme von Infektionen und Toten."

Das Virus entblättert schonungslos die strukturellen Schwächen Lateinamerikas: Gesundheitssysteme, die notorisch unterfinanziert sind oder totgespart und kaputtreformiert wurden – wie in Mexiko. Der linksnationalistische Präsident Andrés Manuel López Obrador erbte dort bei seinem Amtsantritt 2018 eine lückenhafte Volkskrankenkasse und ein korruptes Beschaffungswesen. Doch seine Reform ging schief, sagt Galia García vom Portal MCCI. "Die Volkskrankenkasse gibt es nicht mehr, aber auch keinen funktionierenden Ersatz. Der neue, zentrale Einkauf hat nicht funktioniert, 40 Prozent der Ausschreibungen blieben ohne Bieter, daher fehlte es zu Beginn der Pandemie an Medizin, Geräten und Schutzkleidung."

Keine Hilfe für Informelle

Das soziale Netz ist löchrig, selbst in Ländern mit einer vergleichsweise geringen Zahl informell Beschäftigter wie in Chile (40 Prozent). "In manchen Bezirken Santiagos existieren Armut und Überfüllung, die mir nicht bewusst waren", musste Chiles Ex-Gesundheitsminister Jaime Mañalich einräumen. In Ländern mit hoher Informalität wie Bolivien (80 Prozent) und Mexiko (57 Prozent) hat der Staat nur lückenhafte Register und keinen blassen Schimmer, wem er wie am sinnvollsten helfen könnte.

Geld für Rettungspakete haben ohnehin nur die wenigsten Staaten in der Kasse. Länder wie Argentinien und Ecuador standen schon vor der Corona-Krise vor der Pleite und mussten auch noch mit internationalen Gläubigern Umschuldungen aushandeln. Die Steuerquote ist mit 23 Prozent des BIP um zehn Punkte niedriger als der Durchschnitt in OECD-Indus trieländern und stammt hauptsächlich aus der Mehrwertsteuer. 340 Milliarden US-Dollar gehen laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) jährlich durch Hinterziehung verloren.

Die Reichen sollen helfen

Linke Thinktanks wie das Zentrum für Geopolitische und Strategische Studien (Celag) fordern daher eine Reichensteuer. Diese könnte dann ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzieren, so die Idee, die auch die Cepal teilt. Doch dafür wären Widerstände der Elite zu überwinden.

Momentan sieht es eher nach einer anderen Lösung aus. Staaten wie Mexiko, Bolivien, Chile und möglicherweise auch Brasilien wollen vorzeitige Entnahmen aus den Pensionskassen ermöglichen. Doch das hilft nur den formell Beschäftigten, also besonders der Mittelschicht, und stopft zwar ein aktuelles Loch – aber das auf Kosten noch geringerer Pensionen am Lebensabend. Schon vor Corona regte sich von Haiti bis Chile Unmut über die Eliten und Regierungen. Weitere Proteste infolge der Pandemie sind programmiert. (Sandra Weiss aus Puebla, 20.7.2020)