Nach dem Anschlag gedachten viele Menschen in Halle (Sachsen-Anhalt) vor der Synagoge der Opfer.

Foto: EPA / Clemens Bilan

Den 9. Oktober des vergangenen Jahres wird Max Privorozki nie vergessen. "Ich habe geschrien, ich war in Panik", erinnert sich der Vorsteher der jüdischen Gemeinde im sachsen-anhaltischen Halle. Vor der Synagoge stand ein schwer bewaffneter Mann in Kampfmontur und versuchte, durch die Tür ins Innere des Gotteshauses zu gelangen. Privorozki wählte den Notruf, doch bis die Polizei kam, war der Angreifer – der 27-jährige Stephan B. – schon weitergezogen.

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Aus "Frust", weil er an der massiven Tür der Synagoge gescheitert war, tötete er eine zufällig vorbeikommende Passantin und später, in einem Dönerladen, einen Mann. "Es ist ein Wunder, dass sie (die Tür, Anm.) standgehalten hat. Dass nicht noch mehr Menschen diesem brutalen antisemitischen Anschlag zum Opfer gefallen sind – nicht noch mehr als die zwei, die ermordet worden sind", sagte später der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Das Entsetzen über die Tat ist noch heute groß in Deutschland. B. hatte ausgerechnet Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, ausgewählt, in der Synagoge befanden sich 52 Menschen. Die Generalbundesanwaltschaft als oberste Anklagebehörde ist sich sicher: "Der Angeschuldigte wollte sich zu dem Gotteshaus Zutritt verschaffen und möglichst viele der dort Anwesenden töten."

Antisemitische Gesinnung

Sie sieht bei B., der sich ab Dienstag, in Magdeburg vor Gericht verantworten muss, ein Vorhaben "aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus".

B. wähnte sich offenbar in der Tradition jenes Attentäters von Christchurch in Neuseeland, der im März 2019 bei einem Terroranschlag auf zwei Moscheen 51 Menschen getötet hatte. Die Tat hatte der Mann damals anfangs live gestreamt, bevor der Internetprovider die Übertragung abbrach. Auch B. tat dies in Halle, er veröffentlichte zudem ein "Manifest", in dem er dazu aufrief, Juden zu töten.

"Ich möchte verstehen"

Seine Taten hat er gestanden, er gibt an, allein gehandelt zu haben. Laut "Spiegel" attestiert ihm der forensische Psychiater Norbert Leygraf eine komplexe Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen. Seine Schuldfähigkeit sei dennoch nicht beeinträchtigt gewesen. B. habe nicht im Wahn gehandelt, das Unrecht seiner Taten sei ihm bewusst gewesen. B. wird von seinem Pflichtverteidiger Hans-Dieter Weber als intelligent und wortgewandt, aber als "sozial isoliert" beschrieben. Er lebte bis zu seiner Verhaftung bei seiner Mutter. 40 Personen wollen als Nebenkläger auftreten, dar unter auch Privorozki. Er erhofft sich Aufklärung darüber, wie jemand aus politischer Überzeugung zum Mörder werden könne. "Ich möchte verstehen, was waren die wichtigsten Stufen auf diesem Weg – auch um zu verstehen, was man dagegen machen kann."

Jene massive Sicherheitstür, die die jüdische Gemeinde in Halle selbst zu ihrem Schutz finanzierte, ist immer noch Teil der Synagoge. Nach wie vor sind die Einschusslöcher zu sehen.

Nun aber, am 28. Juli, soll sie entfernt und durch eine neue Tür ersetzt werden. Die alte wollen Gemeindemitglieder und eine Künstlerin umgestalten und ausstellen. Für Bundespräsident Steinmeier hat sie hohe symbolische Bedeutung. Er sagt: "Sie steht auch für uns. Sind wir stark und wehrhaft? Stehen wir genügend beieinander und fest zueinander?" (Birgit Baumann aus Berlin, 21.7.2020)