Auf einem Friedhof in Johannesburg bereitet man sich auf mehr Tote durch die Pandemie vor.

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Lynne Wilkinson hört sich gehetzt an. "Höchstens fünf Minuten", sagt sie, habe sie Zeit. Die Expertin für öffentliche Gesundheit versucht gerade das Notaufnahmelager für Covid-19-Patienten in Johannesburgs Messezentrum Nasrec funktionsfähig zu machen: Hier sollen so schnell wie möglich 600, bald sogar bis zu zweitausend Corona-Infizierte untergebracht werden. Weit mehr als hundert Kranke liegen bereits am Kopfende der Halle 4: leichte Fälle, die sich auch zu Hause auskurieren könnten – wenn sie eine angemessene Bleibe hätten und nicht mit mehreren Personen in einem Raum oder einer Hütte leben würden. Mehr als 200 Betten bereitet Wilkinson derzeit für mittelschwere Fälle vor: für Patienten mit Atembeschwerden, die Sauerstoff brauchen.

Und damit fängt das Trauerspiel an. Als die Gesundheitsexpertin zum ersten Mal in die Messehalle kam, stellte sie erschrocken fest, dass lediglich acht der 600 Betten mit einer Verbindung zum Sauerstofftank ausgestattet waren: für Covid-19-Erkrankte, für die die Zufuhr des lebenswichtigen Gases die einzige oder zumindest wichtigste Behandlungsform ist, ein denkbar schlechter Witz. Auch in den Distriktspitälern des Landes sucht man Installationen zur Sauerstoffversorgung vergeblich. Und in den großen Krankenhäusern der Ballungszentren gehen die Vorräte zur Neige, weil die Zulieferer mit der Produktion nicht nachkommen. "Der Mangel an Sauerstoff ist unser größtes Problem", räumt Gesundheitsminister Zweli Mkhize ein.

Chance verspielt

Als Nachzügler bei der weltweiten Ausbreitung der Pandemie hatte Südafrika eigentlich den Vorteil, aus den Erkenntnissen anderer lernen zu können: etwa dass Covid-19-Kranke so schnell wie möglich mit durch die Nase zugeführtem Sauerstoff zu behandeln sind, um nicht später an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden zu müssen – denn das endet in der Hälfte aller Fälle tödlich. "Wir haben diese Chance verspielt", sagt Françoise Venter, Virologe an der Johannesburger Witwatersrand-Universität: "Die vergangenen vier Monate waren eine katastrophale Zeitverschwendung."

Längst haben sich die Hoffnungen zerschlagen, dass das Coronavirus einen Bogen um das Land am Südzipfel Afrikas machen könnte. Derzeit grassiert der Erreger in Südafrika wie sonst nur in den USA, Brasilien, Russland oder Indien: Mit fast 400.000 Ansteckungsfällen steht das rund 55 Millionen Einwohner zählende Land an fünfter Stelle der Weltrangliste. Täglich werden mehr als 13.000 Neuinfektionen gemeldet, ihre Zahl verdoppelt sich innerhalb von zwei Wochen.

Vor allem Gauteng-Provinz betroffen

Galten zunächst die Touristenhochburg Kapstadt und die benachbarte Ostkap-Provinz als Hotspots der Seuche, ist jetzt der wirtschaftliche Maschinenraum des Landes an der Reihe – die Gauteng-Provinz mit ihren Städten Johannesburg und Pretoria. Hier leben weit über 20 Millionen Menschen, eine Mehrheit von ihnen in Townships oder Slums zusammengepfercht: ideale Voraussetzung für den Erreger. Seit Monaten warnen Experten, Afrikas Slums könnten zu den Killing Fields des Virus werden: In Südafrika droht diese Warnung nun wahr zu werden.

Als Cyril Ramaphosas Regierung so früh wie kaum ein anderes Land bei weniger als 100 Infizierten Ende März einen der schärfsten Lockdowns der Welt verhängte, meinten manche, das Virus so stoppen zu können: eine Erwartung, die sich allerdings schnell zerschlug. Daraufhin rechtfertigte Pretoria die drakonischen Maßnahmen mit der Notwendigkeit, Zeit zur Stabilisierung des staatlichen Gesundheitswesens herausschlagen zu müssen: Doch was in den vergangenen vier Monaten geschah, weiß heute keiner. Selbst in Südafrikas urbanem Zentrum, der Gauteng-Provinz, stehen noch immer nur 30.000 Krankenhausbetten zur Verfügung: Der Bedarf werde bald bis auf 80.000 hochschnellen, weiß Jeremy Nel, Chef für Infektionskrankheiten am Johannesburger Helen-Joseph-Hospital.

Stundenlang im Krankenwagen

Schon zu Beginn des Viren-Tsunami sind heute so gut wie alle Betten ausgebucht: Ein Sanitäter berichtete dem STANDARD, bis zu vier Stunden lang mit seinem Krankenwagen durch Johannesburg kurven zu müssen, um noch ein freies Bett ausfindig zu machen. Auch beim Testen hapert es gewaltig: Patienten müssen bis zu eine Woche lang auf ihre Ergebnisse warten – für schnelle Interventionen oder die Fahndung nach Ansteckungsketten ist es dann längst zu spät.

Dass an dem Procedere trotzdem festgehalten wird, sei eine "bloße Zeit- und Ressourcenverschwendung", schimpft Virologe Venter. Die ländliche Ostkap-Provinz ist beim Kollaps des Gesundheitswesens schon weiter fortgeschritten. Eine monatelange Recherche der BBC brachte zum Vorschein, dass etwa im Livingstone Hospital der Hafenstadt Port Elizabeth Ärzte ihre Arbeitskleidung selbst waschen und Krankenschwestern von Blut und Abfall verschmutzte Böden wischen müssen, seit sich das Reinigungspersonal wegen fehlender Schutzkleidung im Streik befindet. Unterdessen schlafen Patienten unter Zeitungspapier und kämpfen um Beatmungsgeräte. "Hier geht es wie im Krieg zu", sagte ein Arzt dem britischen Fernsehteam.

Tausende Menschen nötig

Gesundheitsminister Mkhize sandte vor kurzem ein Inspektionsteam in die Provinz: "Was wir gesehen haben, ist teilweise noch viel schlimmer, als was die Medien berichten", meldete Ian Sanne, Professor für Klinische Forschung an der Universität Witwatersrand, zurück. "Tausende von Ärzten, Pflegekräften, Hilfspflegern und Pharmazeuten" seien nötig, um der von der Pandemie angerichteten Verheerung Einhalt zu gebieten. Schon seit fast zwei Jahren hat das Livingstone Hospital offenbar kein Management mehr, nachdem das vorige Team wegen Korruption gefeuert worden war.

Das Ostkap habe "historische Probleme mit Personalengpässen, Arbeitskonflikten, Führungsschwäche und leider auch Korruption, Filz und Missmanagement", sagt Cole Cameron, Sprecher der örtlichen Nichtregierungsorganisation Igazi: "Das Gesundheitswesen taumelte seit zehn Jahren. Jetzt ist es vollends kollabiert."

Trügerische Zahlen

Noch kann sich das Kap der Guten Hoffnung einer auffallend geringen Sterbensrate rühmen: Bislang sind weniger als 5.200 Südafrikaner ihrer Ansteckung erlegen. Die geringe Mortalität hat vermutlich viele Gründe: Einerseits sind darin nicht die Toten berücksichtigt, die ohne Corona-Test an der Infektionskrankheit gestorben sind; andererseits hinkt der Ausschlag der Sterberate derjenigen der Neuansteckungen stets um drei Wochen hinterher.

Schließlich ist das südafrikanische Durchschnittsalter mit 28 Jahren fast nur halb so hoch wie in Deutschland (44,4 Jahre): Dass jüngere Menschen von dem Virus weniger heftig mitgenommen werden, ist allgemein bekannt. Trotzdem gab ANC-Provinzpolitiker Bandile Masuku kürzlich bekannt, derzeit würden allein in Gauteng vorsorglich 1,5 Millionen Gräber ausgehoben: fast dreimal so viele wie bisher in aller Welt an Covid-19 starben. In einem späteren Statement ruderte er zurück: Bei der Zahl handle es sich um die insgesamt verfügbaren Kapazitäten, nicht um Gräber, die ausgehoben werden.

Sauerstoff aus der Luft

Lynne Wilkinson hat einen Weg gefunden, ein paar Betten mehr in Halle 4 mit Sauerstoff zu versorgen – unter Einsatz sogenannter Konzentratoren, die sich den Sauerstoff aus der Luft holen. Mit umgerechnet weniger als 1.000 Euro sind die Geräte sogar erschwinglich – allerdings auf dem südafrikanischen Markt nicht mehr zu haben, weil sie entweder von wohlhabenden Privatpersonen oder geschäftstüchtigen Verleihfirmen aufgekauft wurden. Wilkinson appellierte an die Bevölkerung, die Geräte doch bitte leihweise zur Verfügung zu stellen, solange sie von ihren Besitzern nicht gebraucht werden. Immerhin kamen so 20 Konzentratoren zusammen, weitere 50 wird sie von Verleihfirmen mieten. Das Geld dafür muss sie allerdings selbst aufbringen, denn der Staat gibt vor, bankrott zu sein.

Die Gesundheitsexpertin und Mutter zweier Kinder erhält auch keinen Gehalt: Sie arbeitet wie alle medizinischen Helfer in ihrem Teil der Halle unentgeltlich. Derweil werden immer neue Fälle von Korruption und Misswirtschaft im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Pandemie bekannt – wie die Bestellung von Motorrad-Ambulanzen, die sich als untauglich herausstellten, oder der Schwund an Schutzkleidung, die später auf dem Schwarzmarkt verscherbelt wird. Südafrikas Schwächen kämen mit der Corona-Krise noch viel gnadenloser zum Vorschein, sagen Kenner des Landes und verweisen auf Ineffizienz, Beratungsresistenz und Durchstecherei. Ein Cocktail, der nach Kalkulationen von Epidemiologen bis Ende dieses Jahres mehr als 40.000 Menschen das Leben kosten könnte. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 21.7.2020)