Das lautstarke Feilschen um Positionen gehört bei jedem Budgetgipfel dazu.

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Nach mehr als 90 Stunden der Dauerverhandlungen konnte der Ständige Ratspräsident Charles Michel beim EU-Gipfel am Dienstag im Morgengrauen endlich twittern: "Deal". Die Marathonschlacht der Staats- und Regierungschef, bei der es einige böse Wortgefechte gab, ist vorbei. Und alle haben sich wieder lieb?

Vielleicht nicht ganz. Insbesondere der männliche Teil von Europas Führung ging die Sache rhetorisch robuster an. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron – ausgerechnet er – warf dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz übertriebenen Eigensinn vor. Dieser gab zurück, dass beim anderen wegen Schlaflosigkeit wohl "die Nerven blank lagen". Besonders "impulsiv" waren auch der Italiener Giuseppe Conte, aber auch Ungarns Viktor Orbán.

Das klingt nach Zerwürfnis. Man sollte solchen Ärger auf der höchsten politischen Ebene aber auch nicht überschätzen. Es hat noch nie einen EU-Budgetrahmengipfel gegeben, bei dem nicht heftig um sehr viel Geld und Eigeninteressen gerangelt worden wäre, bis man am Ende doch zusammenfand – mit verwässerten Ergebnissen.

Die meisten sind zufrieden

Die Profis im Politstreit vergessen schnell. Und sie sind sich oft sehr ähnlich im harten Politikgeschäft. Als sie am Dienstagmorgen aus dem Ratssaal wankten, zeigten sich jedenfalls die meisten sehr zufrieden. Das meistverbreitete Wort war wohl "historisch". Man habe ein großes zukunftsweisendes Programm hingekriegt. Und trotzdem jeweilige nationale Interessen gewahrt.

Stimmt das auch? Und wo sind die großen Schwächen beim neuen Wiederaufbauprogramm zur Überwindung der Corona-Krise, das an das reguläre EU-Budget angedockt wird?

Zuerst das Positive: Die Regierungschefs haben den im Februar vorliegenden Budgetrahmen für sieben Jahre von 2021 bis 2027 praktisch unangetastet gelassen. Er sieht nun 1.074 Milliarden Euro an Ausgaben vor. Das ist zwar nicht ganz so viel, wie die EU-Kommission ursprünglich wollte. Aber es hatte (noch vor der Corona-Krise) so ausgesehen, als würde das Richtung 1.000 Milliarden runtergehandelt. So war die Forderung der "Sparsamen Vier" damals. Die Kommission kann also im traditionellen Programmbereich ordentlich wirtschaften.

Wiederaufbaufonds unverändert

Inzwischen war Corona gekommen, und die Kommission schlug den zusätzlichen Wiederaufbaufonds vor, dotiert mit 750 Milliarden Euro. Der sollte mit reinen Zuschüssen im Volumen von 500 Milliarden dazu dienen, den von der Krise meistbetroffenen Staaten Konjunkturhilfen zu verschaffen, die sie mit eigenen Krediten schwer finanzieren können. Gleichzeitig sollten damit der Umbau Richtung Klimaschutz und Digitalisierung sowie Strukturreformen unterstützte werden.

Beim Gipfel wurde dieser Wiederaufbaufonds mit dem Budget vom Volumen her unverändert gelassen. Das bedeutet, dass die EU in den nächsten sieben Jahren mit insgesamt 1,82 Billionen Euro das größte Budget hat, das es je gegeben hat. Und, auch neu: Der Corona-Fonds soll mit eigenen Einnahmen der EU, sprich Steuern und Abgaben auf Plastik, aufs Digitalgeschäft, zum Klimaschutz finanziert werden. Insofern stimmt es schon, dass Bedeutendes beschlossen wurde. Allerdings: Die Finanzierung durch eigene EU-Steuern steht auf tönernen Fußen. Es ist nicht wirklich klar, ob es ab 2023 wie geplant tatsächlich gelingt, bedeutende Einnahmen zu lukrieren. Sonst müssten die Staaten mit Garantien einspringen. Die Tilgung der Schulden beginnt aber erst 2028.

Vor allem auf Druck von den Niederlanden, Österreich, Dänemark und Schweden wurde daher kräftig abgespeckt. Statt 500 Milliarden Euro an Zuschüssen gibt es nur noch 390 Milliarden, die restlichen 360 Corona-Milliarden können notleidende Mitgliedsstaaten in Brüssel nur in Form von billigen Krediten abrufen, die als EU-Schulden von der Kommission aufgestellt werden.

Die Kürzungen gegenüber dem ursprünglichen Antrag der Kommission auf 500 Milliarden an Zuschüssen, was Frankreich mit Deutschland forcierte, wurden vor allem dadurch erreicht, dass geplante Zusatzfonds für Forschung und Entwicklung beziehungsweise Gesundheitsprogramme wieder gestrichen wurden. Auf einen eigenen Fonds zur EU-Eigenmittelhilfe wurde verzichtet, um die Plafondforderungen der Sparsamen zu erfüllen.

Feinere Regeln

Die Regeln zur Mitttelvergabe aus dem Fonds wurden verfeinert. So soll zum Beispiel nicht mehr nur die Arbeitslosenquote von 2015 bis 2020 zur Berechnung des Anspruchs auf Corona-Gelder herangezogen werden, sondern ab 2023 der reale Einbruch der Wirtschaften durch die aktuelle Krise.

Das Negative am Deal: Wegen der ständigen Grundrechtsverletzungen der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán war groß angekündigt worden, dass man EU-Subventionen streng an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit binden wolle. Davon ist im Schlussdokument zwar die Rede, aber der Mechanismus ist nicht geklärt. Die Kommission soll nun Vorschläge machen, wie man das genau ausgestaltet. Es soll in die Richtung gehen, dass eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten darüber entscheiden können soll, ob Wiederaufbaumittel wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zurückgehalten werden. In der Praxis eine zahnlose Lösung, mit der Orbán gut leben kann. Sie wird mit großer Wahrscheinlichkeit nie schlagend werden – so wie die Kommission auch bei den Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn und Polen seit Jahren nicht weiterkommt. (Thomas Mayer, 21.7.2020)