Die Britin Ellie Goulding macht jetzt die Musik, die sie machen will. Das regt manchmal zum Schlafen an, zeugt aber von Haltung.

Foto: Universal Music

Mainstreampopstars besitzen wie Produkte einen USP, ein einzigartiges Verkaufsversprechen, das sich bestenfalls in einem Adjektiv zusammenfassen lässt. "Verwegen" zum Beispiel (Rihanna), "authentisch" (Ed Sheeran), "farbenprächtig" (Lady Gaga) oder "jenseitig" (Kanye West).

Worte wie "vorhanden" und "nett" sind für jemanden, der für Tophits verantwortlich zeichnet, eher ungewöhnlich. Die 33-jährige Britin Ellie Goulding ist aber genau das: vorhanden und nett. Während ihrer ungefähr zehnjährigen Karriere hat sie sich wenig darum gekümmert, sich zu einer extraordinären Marke zu machen, was man jetzt einmal ganz wertfrei feststellen darf.

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Goulding hat sicherlich eine interessante Stimmfarbe, singt aber durchschnittlich, ist freilich hübsch, aber auf eine unbedrohliche, Mädchen-von-nebenan-artige Weise, und ihre Musik, na ja, ist unauffällig wie ein Muttermal, das man alle fünf Jahre vom Hautarzt kontrollieren lässt. Ellie Goulding ist der Act, den man sich auf seiner Hochzeit wünscht, wenn man Prince William und Kate Middleton ist. Da kann nämlich nichts passieren. True Story, übrigens. Sie fiel auch nie großartig mit irgendwelchen Skandälchen, unüberlegten Aussagen oder sonstigen, oftmals kalkulierten, Dummheiten auf, die zur Karriere von Popstars gehören wie die Faust aufs Auge.

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Lieber im Pub

Und für wen das jetzt ein bisschen gemein klingt, der wird sich wundern, dass die Goulding mit dieser nicht ganz schmeichelhaften Einschätzung vermutlich kein allzu großes Problem hätte. Wahrscheinlich hätte sie gut damit leben können, zeit ihres Lebens durch Pubs zu touren, wo sie ursprünglich entdeckt worden war. Blöderweise kürte sie der BBC 2010 zu einer der vielversprechendsten Zukunftshoffnungen des Pop und, – vereinfachte Kurzfassung – plötzlich war sie Star wider Willen. Goulding machte nie einen Hehl daraus, dass ihr die Popindustrie unheimlich ist. Von Panikattacken gequält schleppte sie sich jahrelang von Tournee zu Tournee und sang Lieder, die sie selbst eher medioker fand.

Folgerichtig daher, dass ihr neues Album Brightest Blue, ihr erster Longplayer seit fünf Jahren, einen anderen Weg einschlägt. Es weist einen Tiefgang, eine Dringlichkeit auf, der für Stars dieses Formats gar nicht notwendig wäre. Sie hätte auch weiterhin Minimalinvasives wie ihren Superhit Love me like you do trällern können, bekannt vom Fifty Shades Of Gray-Soundtrack – es hätte niemanden gestört, außer, ganz offensichtlich, sie selbst.

Zwei Seelen in einer Brust

Weil Goulding halt doch Profi ist, teilte sie ihr neues Album in zwei Teile. Im zweiten Teil rattert sie zusammen mit anderen hochgefragten Chartexperten wie Swae Lee oder Lauv ein paar Hits runter, um die Fans ruhigzustellen und im Radio gespielt zu werden. Man will ja sein auf 20 Millionen Dollar geschätztes Vermögen auch nicht unnötig schwinden sehen. Im ersten, viel längeren Teil des Albums macht die Songwriterin und Multiinstrumentalistin die Musik, die sie machen will.

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Und siehe da, die ist gar nicht so übel. Gleich der Opener Start ist in die Form eines Liebeslieds der Marke toxische Beziehung gegossene Abrechnung mit der Musikindustrie. Eine Nummer, die sich ganz langsam aufbaut und eine unerwartete Wendung nimmt, als Gastsänger Serpentwithfeet – ein absoluter Geheimtipp, der nach allen Regeln des Mainstreampop überhaupt nichts auf so einem Album zu suchen hätte – um die Ecke biegt. "Fighting against what I’m fighting for / Another walk to the liquor store" – ja, da geht’s, wie auf dem kurzen, tollen Intermezzo Wine Drunk nicht um lustiges Partysaufen, sondern um Betäubung. Die Dämonen werden mit unaufgeregter Ehrlichkeit nach dem Motto in vino veritas referiert und das geht nahe. Auch die poppigeren Tracks zwei und drei, Power mit dem Riesenrefrain und How Deep is Too Deep, können sich absolut hören lassen.

Im Mittelfeld des Albums wird’s dann etwas belanglos. Statt der zwölf Nummern, die den ersten Teil der Platte ausmachen, hätten es sechs auch getan, leichter Sekundenschlaf stellt sich ein. Alles in allem überzeugt Brightest Blue sicherlich mehr durch Gouldings Haltung als durch die Musik. Aber Haltung hat Ellie Goulding wenigstens – doch noch einen USP gefunden. (Amira Ben Saoud, 21.7.2020)