Im Gastkommentar erinnert sich die Journalistin und Schriftstellerin Trautl Brandstaller an 47 Jahre Mittel- und Osteuropadiskurs.

Eine historische Pointe: Einer der besten Russland-Kenner der USA, Richard Pipes, gab 1971 den Anstoß zur Gründung der Europäischen Rundschau. Beim gemeinsamen Mittagessen mit Paul Lendvai wunderte sich Pipes darüber, dass in einem neutralen Land, dessen geografische Lage und historische Tradition es zum Dialog zwischen Ost und West prädestiniere, keine internationale Zeitschrift existiere. Lendvai fühlte sich dadurch ermuntert, eine solche Zeitschrift zu gründen. Zwei Jahre später war es so weit. "Von Anfang an war es unser Ziel, die Zeitschrift zu einem Forum des Dialogs zwischen Ost und West, zwischen verschiedenen politischen Richtungen ohne Rücksicht auf ideologische Trennlinien, auf den politischen und weltanschaulichen Standort der Autoren auszubauen", so Lendvai in der 40-Jahr-Jubiläumsnummer.

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Paul Lendvai bei der Präsentation der Zeitschrift 1973 mit dem Gewerkschafter Anton Benya (re.) und dem Manager Josef Taus (Mitte).
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Bewegung im Ostblock

Die frühen Siebzigerjahre waren die Zeit der beginnenden Entspannungspolitik zwischen den USA und der Sowjetunion. Auf der Helsinki-Konferenz 1975 wurden erstmals offiziell auch von der Sowjetunion die Menschenrechte als Basis der internationalen Kontakte anerkannt. Die ersten Gruppen von Dissidenten und liberale Bürgerrechtsbewegungen bildeten sich im Ostblock, die Welt mit ihren starren ideologischen Fronten geriet in Bewegung.

Österreich wurde von dieser langsam anrollenden Umwälzung mit erfasst. Bruno Kreisky wollte aus der Neutralität ein Instrument aktiver Friedenspolitik machen und Österreich aus der Provinz auf die internationale Bühne führen. Kreisky und etliche, auch konservative Politiker wie Josef Taus, später Erhard Busek unterstützten die neue Zeitschrift. Und Lendvai gewann international renommierte Autoren dafür: vom britischen Historiker Timothy Garton Ash bis zum polnischen Philosophen Leszek Kołakowski, vom russischen Außenminister Jewgeni Primakow bis zum US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński, vom französischen Historiker André Fontaine bis zum deutschen Historiker Jan-Werner Müller, vom ungarischen Ökonomen András Inotai bis zum tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg.

Schwarzenberg, früher Kritiker der kommunistischen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, war seit Beginn der Siebzigerjahre politisch aktiv, er engagierte sich im Helsinki-Prozess mehrfach für Dissidenten. In seiner Rede zum 40-Jahr-Jubiläum der Zeitschrift meinte er, zwei Hoffnungsträger hätten die Mittel- und Osteuropäer gehabt – die Europäische Rundschau und das 1982 in Wien gegründete Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Große Zäsur

Die große Zäsur der europäischen Geschichte, die Implosion des Kommunismus, kam auch für die Europäische Rundschau eher unerwartet, obwohl sie 15 Jahre an der Wiederherstellung von Demokratie und Freiheit gearbeitet hatte. Lendvai veröffentlichte als Erster einen Auszug aus Francis Fukuyamas Ende der Geschichte mit der Prognose eines endgültigen Siegs der liberalen Demokratie. Wie sich binnen kürzester Zeit herausstellen sollte, holte die Geschichte Europa in unvorstellbarer Härte ein. Der Jugoslawienkrieg wurde zu einem zentralen Thema der Zeitschrift. Aber auch die Transformation der anderen postkommunistischen Staaten geriet ambivalenter, als die Optimisten des Jahres 1989 geglaubt hatten. Vom endgültigen Sieg der liberalen Demokratie war schon Ende der Neunzigerjahre keine Rede mehr. Die Tendenzen zur "illiberalen Demokratie", also zu einem neuen Autoritarismus, wurden von der Rundschau kritisch unter die Lupe genommen.

Der neue Nationalismus machte allerdings auch vor den westlichen Staaten nicht halt. "Die über Generationen gepflegten Vorurteile und Feindbilder, Ängste und Ressentiments sind bis heute erschreckend wirksam geblieben", schrieb Lendvai in seinem Abschiedsartikel und warnte vor einem möglichen Zerfall des historischen Projekts EU.

Primat der Ökonomie

Die Entwicklungen der letzten 30 Jahre gehen allerdings nicht nur auf historisch gewachsene, nationale Antagonismen zurück, sie reichen tief hinein in die ökonomischen Umwälzungen, die zu einer neuformierten Gesellschaft und zu einer Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich geführt haben. Diese massiven Veränderungen sind es, die das europäische Projekt gefährden und die Fronten zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd neu aufgerissen haben. Das Primat der Ökonomie vor der Politik hat wesentlich zum Ende der Europäischen Rundschau beigetragen. "Ein intellektueller Leuchtturm löscht die Lichter", titelte die Neue Zürcher Zeitung ihren von Ulrich Schlie verfassten fulminanten Nachruf.

Ein Diskurs über die Zukunft Europas wird nicht nur in der Europäischen Rundschau nicht mehr geführt werden, auch die österreichische Politik vernachlässigt in zunehmendem Maß die europäische Dimension, siehe das Verhalten in der Flüchtlingsfrage oder – ganz aktuell– beim geplanten Wiederaufbaufonds für Europa nach der Corona-Krise. Sie läuft damit Gefahr, sich selbst zu provinzialisieren und das internationale Ansehen des Landes zu gefährden. (Trautl Brandstaller, 22.7.2020)