Polizeikontrolle während des Lockdowns am Wiener Donaukanal: Die Ausgangsbeschränkungen verwirrten Bürger und Behörden.

Foto: APA /Herbert C. Oczeret

Alles vergeben und vergessen: Das schlägt die Opposition für die Verstöße gegen die Corona-Regeln vor. SPÖ, FPÖ und Neos fordern eine Generalamnestie bei sämtlichen Strafen, die wegen angeblicher Verletzung der Ausgangsbeschränkungen während des Lockdowns verhängt wurden. Wegen widersprüchlicher Ankündigungen, Gesetze und Verordnungen sei weder dem Volk noch den Behörden klar gewesen, was erlaubt war und was nicht, argumentieren etwa die Sozialdemokraten: "Eine Amnestie ist da nur recht und billig."

Tatsächlich? Stehen derart viele Strafen auf rechtlich wackeligen Beinen, dass ein "Schwamm drüber" gerechtfertigt ist? Um eine Antwort zu finden, lohnt ein schärferer Blick auf die konkreten Fälle. DER STANDARD hat am Verwaltungsgericht Wien nachgefragt. Dort sind bis dato 350 Beschwerden gegen Corona-Strafen eingetrudelt, 44 davon sind bereits entschieden.

Pönalen zwischen 100 und 500 Euro

Die Richter haben dabei in mehr Fällen im Sinne der sich beschwerenden Bürger entschieden als umgekehrt. Sechs Pönalen wurden im vollen Umfang – sowohl hinsichtlich Tatbegehung als auch hinsichtlich Strafhöhe – bestätigt, in zwei weiteren Fällen trifft dies teilweise zu. Neunmal aber hat das Gericht beanstandete Bescheide "behoben". Gleich 20-mal wurde das Strafausmaß, das zwischen 100 und 500 Euro lag, gesenkt, was verschiedene Gründe haben kann – etwa dass der Betroffene wenig Geld hat.

Beatrix Hornschall, Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts, zählt ein Potpourri an Gründen auf, warum ihre Instanz Bescheide kippte. Für unrechtmäßig hielt das Gericht etwa Strafen für Menschen, die gemeinsam im Auto fuhren – ein privater Wagen sei kein öffentlicher Raum, wo ein Meter Abstand vorgeschrieben ist. Das Argument mit der Privatsphäre galt auch für jene Fälle, wo die Polizei Besuche bei Freunden in Wohnungen sanktionierte; selbst der Weg dorthin sei erlaubt gewesen, solange der Ein-Meter-Abstand eingehalten wurde. Einen besonders subtilen Einwand führte ein Richter ins Treffen, nachdem eine Streife Bürger gestraft hatte, weil sie zu eng auf einer Parkbank gesessen waren: Die entsprechende Verordnung schreibe den Mindestabstand nur beim Betreten des öffentlichen Raumes vor, nicht aber beim Aufenthalt.

Ob diese Beispiele für eine Amnestie sprechen? Hornschall hütet sich vor voreiligen Schlüssen. "Bei uns arbeiten 92 unabhängige Richter, die rechtliche Fragen unterschiedlich auslegen können", sagt sie. "Die Entscheide sind lauter Einzelmeinungen, zu denen noch verbindliche Auslegungen der Höchstgerichte fehlen. Die Corona-Gesetze sind juristisches Neuland."

Staatliche Autorität untergraben

Bernd Christian Funk warnt davor, aus der Trefferquote bei den Beschwerden automatisch darauf zu schließen, dass auch sämtliche 35.000 Anzeigen, welche die Polizei laut Innenministerium von Mitte März bis Mitte Juni verfügt hat, zu einem Gutteil ungerechtfertigt seien: Menschen föchten Bescheide eher erst dann an, wenn es Erfolgsaussichten gebe.

Trotz aller legistischer Schwächen ist der renommierte Rechtsgelehrte gegen die Generalamnestie. Es habe zweifellos auch genügend Strafen gegeben, die zu Recht verhängt wurden, wendet Funk ein, und wer sich ungerecht behandelt fühle, könne ja eben Beschwerde einlegen. Die vielen Medienberichte würden genügend Unterfutter dafür bieten, dass der Gang zum Verwaltungsgericht auch Laien zuzutrauen sei. Eine Amnestie würde "ein großes Feld der Ungleichbehandlung" öffnen, Regierung und Polizei desavouieren und staatliche Autorität untergraben: "Die Bereitschaft, sich an solche Gesetze zu halten, würde sinken."

Kommt ein genereller Straferlass, würde in Zukunft kaum jemand einschlägige Corona-Gesetze ernst nehmen, warnt auch Theo Öhlinger, ein anderer Rechtswissenschafter von Rang. Er geht davon aus, dass der Großteil der Verwaltungsstrafen juristisch in Ordnung sei, und teilt keineswegs alle Einwände aus dem Verwaltungsgericht. Zum Argument in der Parkbankcausa, wonach die Abstandsregel nur beim Betreten des öffentlichen Raums gelte, fällt ihm ein Wort von Bundeskanzler Sebastian Kurz ein: "Das ist spitzfindig. Es ist eindeutig klar, was in der Verordnung gemeint ist."

Warten auf die Höchstrichter

Auch die Regierung lässt sich nicht auf die Amnestie ein – bisher. Erst gelte es die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) abzuwarten, heißt es aus dem Büro von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Was damit gemeint ist: Das Verwaltungsgericht Wien hat beim VfGH die am 15. März verhängte Corona-Verordnung beanstandet, weil diese dem Epidemiegesetz widerspreche. Die Regierung habe mit dem generellen Betretungsverbot für den öffentlichen Raum zur Regel gemacht, was nur Ausnahme sein dürfe.

Noch diese Woche sollen die Höchstrichter die Entscheidung verkünden. Doch selbst wenn diese gegen die Verordnung ausfalle, folge daraus keine Generalamnestie, sagt der Jurist Funk: Die Entscheidung betreffe nur jene Fälle, die sich dem Verfahren angeschlossen hätten. (Gerald John, 22.7.2020)