Schlange vor einem Baumarkt im April: Dass einige Geschäfte – je nach Branche und Größe – vor den anderen aufsperren durften, habe laut Verfassungsgericht gegen das Recht verstoßen.

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Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat einige mit Spannung erwartete Entscheidungen verkündet. Es ging um die politisch heißumstrittene Frage, ob die verschiedenen Ausgangsbeschränkungen während des Corona-Lockdowns gesetzlich gedeckt gewesen seien. Laut den Höchstrichtern war das weitgehend nicht der Fall.

So stellt der VfGH fest, dass das Betretungsverbot öffentlicher Orte im wesentlichen rechtswidrig war, weil dieses nicht durch das Covid-19-Maßnahmengesetz gedeckt gewesen sei. Letzteres sieht vor, dass das Betreten bestimmter Orte verboten werden kann, woran der Gerichtshof auch nichts auszusetzen hat. Doch die fast schon berüchtigte Verordnung zu den Ausgangsbeschränkungen vom 15. März ging über dieses Prinzip weit hinaus. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) ließ das Betreten öffentlicher Orte generell verbieten, mit den vier x-mal verkündeten Ausnahmen: Berufsarbeit, Hilfeleistungen, dringende Besorgungen, Spaziergänge allein oder mit Haushaltsangehörigen bei Einhaltung des Ein-Meter-Abstands.

Ein solches "allgemeines Verbot mit Erlaubnisvorbehalt" sei vom Maßnahmengesetz nicht gedeckt, so die Höchstrichter. Die Argumentation im Wortlaut: "Dieses Gesetz bietet keine Grundlage dafür, eine Verpflichtung zu schaffen, an einem bestimmten Ort, insbesondere in der eigenen Wohnung, zu bleiben."

Zentrale Verordnung gekippt

"Der Verfassungsgerichtshof hat die wichtigste Verordnung zu den Ausgangsbeschränkungen damit praktisch zur Gänze eliminiert", urteilt der Verfassungsrechtsprofessor Heinz Mayer. Dabei hätte sich die Regierung das ersparen können, indem sie die Regelung rechtzeitig repariert hätte: "Warnungen, dass die Verordnung so nicht haltbar ist, gab es genug."

Die Verordnung ist seit Ende April nicht mehr in Kraft. Der VfGH hält aber ausdrücklich fest, dass die gekippten Regelungen nicht mehr anzuwenden seien. Dies ist für laufende Verwaltungsstrafverfahren relevant – darin verwickelte Bürger sind nun wohl aus dem Schneider.

Zur Einordnung: In der Bundeshauptstadt Wien sind in Zusammenhang mit den Coronavirus-Verordnungen bisher insgesamt 11.500 Anzeigen eingelangt, und davon mündeten 8.800 tatsächlich in Strafverfügungen.

Allerdings: Wer sich nicht beschwert, sondern gezahlt habe, dem bringe die Entscheidung erst einmal nichts, sagt Mayer: Diese Verfahren seien abgeschlossen, Rückzahlung sei nicht automatisch vorgesehen – es sei denn, die Regierung entschließe sich zu einer Kompensation, wie sie die drei Oppositionsparteien in Form von Amnestien fordern.

Die Kritik seitens der Regierungsgegner ist mit dem VfGH-Entscheid naturgemäß angeschwollen. "Schlampigen Umgang der Regierung mit dem Rechtsstaat" attestiert die SPÖ: Der türkis-grünen Koalition sei Inszenierung wichtiger als seriöse Gesetzgebung. Die FPÖ ortet "Verordnungspfusch", die Neos fordern: "Das Mindeste, das die Regierung tun könnte, ist, sich bei den Betroffenen zu entschuldigen und ihnen ihre Strafe zu erlassen."

Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadtler (ÖVP) sagt zur Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs: "Wir werden unsere Lehren daraus ziehen." Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sieht die Erkenntnis als wichtig für die weitere Arbeit.
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Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) geht in einer ersten Reaktion allerdings nicht annähernd so weit. Sie habe "höchsten Respekt und Anerkennung" für das Erkenntnis, müsse es aber erst im Detail prüfen: "Wir werden die Lehren daraus ziehen." Auf die Frage, ob Strafen zurückgezahlt werden sollen, ging sie nicht ein. Etwas kulanter, aber ebenfalls vage reagierte Minister Anschober: Er kündigte eine "bürgerfreundliche Regelung" für die verhängten Strafen an.

Geschäfte nicht gleichbehandelt

Die zweite brisante Entscheidung betrifft die Lockerung des Lockdowns nach Ostern. Die Regierung hatte dabei zwischen Handelsunternehmen nach Größe und Branche unterschieden. Geschäfte mit einer Verkaufsfläche unter 400 Quadratmetern durften bereits nach zwei Wochen wieder aufsperren, das gleiche Privileg erhielten Baumärkte und Gartencenter. Größere Geschäfte aller anderen Branchen mussten hingegen geschlossen bleiben.

Auch das sei gesetzeswidrig gewesen, sagt der VfGH. Grund: Der Gesundheitsminister hätte nachvollziehbar machen müssen, auf Basis welcher Informationen er die Regelung konzipiert hat. Wieder gilt: Die Verordnung ist seit Ende April nicht mehr in Kraft und darf jedenfalls nicht mehr angewandt werden.

Kampf um Schadenersatz

Die Entscheidung stärkt Händlern den Rücken, die sich gegen die Verkaufsbeschränkungen wehren. Gerhard Zimmermann, Chef der Schuhhandelskette CCC, hat den erlittenen Schaden durch Umsatzentgang bereits eingeklagt und fordert ihn vom Staat zurück. "Das würde jeder machen. Fährt mir einer ins Haus, muss er für den Schaden auch aufkommen", sagt er dem STANDARD. CCC musste in Österreich knapp 50 Standorte länger geschlossen halten als der Rivale Deichmann. Das dadurch verlorene Geschäft lasse sich durch Vergleiche mit dem Vorjahr und Filialen in anderen Ländern trefflich eruieren, sagt Zimmermann.

Rechtssicherheit

Scharfer Kritiker der 400-Quadratmeter-Regelung war auch XXXLutz. "Nun gibt es Rechtssicherheit, über die sich keiner mehr hinwegsetzen kann", resümiert Thomas Saliger, Sprecher des Möbelkonzerns. Sollte es zu einem weiteren Lockdown kommen, seien der Willkür Schranken gesetzt. Wird auch Lutz den finanziellen Schaden einklagen? Saliger: "Wir sehen uns das alles erst im Detail an, derzeit steht es nicht im Fokus."

Der Handelsverband hatte vor einer Differenzierung in große und kleine Geschäfte stets gewarnt und sie als gravierenden Eingriff ins Wirtschaftsleben bezeichnet. Rainer Will, Chef des Verbands, wies mehrfach darauf hin, dass sich Abstandsregeln in größeren Geschäften zumindest gleich gut, wenn nicht sogar besser einhalten ließen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshof überrasche ihn daher nicht, sagt Will.

Druck für das selektive Lockern der Verkaufsbeschränkungen war von der Wirtschaftskammer gekommen. Ziel war, kleinen Händlern einen zeitlichen Vorsprung zu verschaffen.

Riskante Verfahren

Der Grazer Rechtsanwalt Georg Eisenberger prüft für betroffene Händler Amtshaftungsklagen. Er nennt sie im Gespräch mit dem STANDARD jedoch riskant und heikel. Große Aussicht auf Erfolg hätten sie, wenn das Vorgehen der Ministerien krass rechtsunmöglich, also quasi denkunmöglich gewesen sei. Eine Formulierung, die der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung aber so nicht explizit traf. Vielmehr könnte die Regierung ihr Vorgehen damit begründen, dass es für den Moment der richtige Schritt gewesen sei.

Ruf nach Entschädigung blitzt ab

Keine erfreuliche Nachricht haben die Höchstrichter jedenfalls für Inhaber von Geschäften, Hotels und anderen Betriebsstätten parat, die eine Entschädigung für den Verdienstentgang während des Lockdowns erhofften. Es sei verfassungskonform, dass dieser im Epidemiegesetz enthaltene Anspruch entfallen ist, die Regelung verstoße weder gegen das Grundrecht auf Unversehrtheit des Eigentums noch gegen den Gleichheitsgrundsatz. Der Eingriff sei deshalb nicht unverhältnismäßig gewesen, weil die Regierung zur Abfederung ja ein großes Maßnahmen- und Rettungspaket geschnürt hatte. (Gerald John, Verena Kainrath, 22.7.2020)