Der erste Bezirk in Wien ist grundsätzlich ein seltsames Gebilde. Am besten kennt man ihn aus der Fantasie. Natürlich: der Stephansdom, die Hofburg, die Albertina, die Oper, den Volksgarten, meinetwegen die Anker-Uhr, den Graben mit und ohne Weihnachtsbeleuchtung, die berühmten alteingesessenen und weniger alteingesessenen Shops mit ihren funkelnden Auslagen, die legendären Kaffeehäuser. Alles sehr postkartentauglich über die Jahrzehnte. Die Frage ist: Hält man sich in Wien-Innere Stadt auch tatsächlich auf? Wohnt man nicht in Wien und ist man zu Besuch aus einem Bundes- oder dem Ausland: ja, natürlich. Schließlich ist der Zweck des Besuchs auch die Weltstadtbesichtigung.

Doch kaum lebt man in Wien, ist Schluss damit, wird der eigene Bezirk zum Dorf. Es gilt, was vermutlich in vielen Großstädten gilt: Man bewegt sich hauptsächlich in jenem Bezirk, in dem man wohnt, und in jenen, in denen man arbeitet.

Haben Sie schon einmal versucht, mit Menschen aus den Bezirken zwischen 1020 bis 1090 einen Treffpunkt zu vereinbaren, der nicht in ihrem Arbeits- oder Wohnbezirk liegt? Das kann verdammt viel Überzeugungskraft brauchen. Dann sollen sie auch noch über den Ring? Puh.

"Der Erste" macht sich ganz unspektulär fein für den Tag.
Foto: Regine Hendrich

Selbst nach drei Jahren, die ich vor einer Ewigkeit in der Kärntner Straße gearbeitet habe, gibt mir der erste Bezirk noch Rätsel auf. Seine Geschichtsschreibung, seine Gschichtldruckerei und seine Lokalitäten sind mir vertraut, seine Wege auch. Und trotzdem verlaufe ich mich in manchen Winkeln noch immer, stehe plötzlich in einem anderen Jahrzehnt oder Jahrtausend. Der erste Bezirk ist altersbedingt ziemlich schief und manchmal sogar zweigeschoßig innerhalb seiner vom Brachial-Ring aufoktroyierten kreisförmigen Ordnung, von außen betrachtet "uncharted territory", uraltes Neuland. "Here be Hofratswitwen", könnte hier stehen wie auf den alten Seefahrerkarten, wo vor möglichen Ungeheuern gewarnt wurde: "Here be Dragons".

Der Witz wäre gut, wenn ich nur je eine einzige Hofratswitwe kennengelernt hätte. Einmal traf ich einen Zinshausbesitzer, in einer Bar nach Mitternacht, aber er war entmündigt, und so in etwa ist das wohl in Wien I mit der Distanz zwischen Vorstellung und Realität.

Der Stephansplatz als Bühne

Jede Stadt hat ihre Bühnen, ihre Schauplätze. Und wie bei einem Festival wechseln Stück und Publikum nach Uhrzeit und Tageslauf. Der Stephansplatz hat viele Seiten, aber auch sie haben sich heuer gravierend geändert. Im Mai ging ich einmal nachts quer durch den Ersten, die Kärtner Straße entlang, über den Stephansplatz, die Rotenturmstraße hinunter, und da war kein einziger Mensch zu sehen, dabei war es kaum Mitternacht. Völlige Menschenleere. Fast, als hätte eine Pandemie ... Dabei ist nachts der einzige Mensch auf dem Stephansplatz zu sein ein leicht herzustellender Zustand. Doch auch dann weiß man um die kleinen Beisln, die schlimmen und weniger schlimmen schummrigen Tschumsen, die noch offen hätten. Doch da war nichts. Aber auch untertags haben sich Tempo und Publikum verändert: Die touristisch motivierten Menschenströme sind kleiner, deshalb bringt es an dieser Stelle auch nichts, zu verraten, wie man in 1010 Wien effizient durch eine Menschenansammlung kommt. Ich hab es mir vor 25 Jahren von einer älteren Dame abgeschaut: Man haucht den Menschen leise, aber in Großbuchstaben ein "GESTATTEN!" ins Genick, und alle, egal woher, verstehen’s. Auch das fällt heuer flach. Hauchen Sie bitte niemandem ins Gnack, danke.

Aber manche Geheimnisse versteckt er gar nicht, der Bezirk, sondern man entgeht ihnen nur durch die falsche Tageszeit. Und eines davon kann man inzwischen wieder, mit Corona wie ohne, erleben: den Stephansplatz in seinem Urzustand um acht Uhr morgens. Dann, wenn der große Bühnenaufbau noch in vollem Gange ist, der Bezirk noch nicht Touristenhochburg und Shoppingmall.

Wenn die Wiener City zur Bühne wird, steht die Müllabfuhr noch da. Die Spuren der Nacht hat sie längst beseitigt.
Foto: Regine Hendrich

Noch gehört er den Menschen, die hier arbeiten. Besucherinnen und Besucher schlafen noch, niemand fragt um diese Uhrzeit nach dem Weg, alle, die hier sind, kennen ihre Routen auch im Halbschlaf. Die Trafiken haben längst offen, versorgen die Stadt mit Zigaretten und Neuigkeiten, vor der Blumenhandlung hinter dem Stephansdom werden die Sträuße und Töpfe herausgeräumt, bis hier der täglich leuchtende Biedermeiergarten entsteht. Handwerker mit Zollstock in den Hosentaschen und Farbe an der Arbeitskleidung haben es eilig, werken, lange bevor der Arbeitstag der anderen beginnt, genauso wie die Putzfrauen in den Geschäften. Die Müllabfuhr steht noch da, die Spuren der letzten Nacht sind längst beseitigt. In den noch menschenleeren Seitengassen der sommers durchdringende Geruch nach Pferdeurin, so typisch wie winters der eiskalte Wind hinterm Stephansdom.

Vorm Haas-Haus sitzt jemand mit Krücke und großem Sack auf einer Bank. Daneben spuckt nach und nach die U-Bahn-Station Stephansplatz die Akteure und Dirigentinnen dieses Bezirks aus. Schon haben sie sich, wie wir alle, die Person und den Beruf angezogen, die sie hier heute darstellen werden, hier sieht man es ein bisschen deutlicher als anderswo. Geht es ins Amt? Ins Ministerium? Eine Kanzlei? Einen Shop? Ist er günstig oder exklusiv? Die Rolltreppe stellt sie alle sanft auf den Laufsteg des Grabens, und sie ziehen zielstrebig ihres Weges, wie Spielerinnen und Spieler im Spiel dieser Stadt. Möglicherweise sind hier die Regeln ein bisschen anders, ist das Schuhwerk und das Leder der Taschen besser (oder zumindest teurer), verstecken die guten Kleider und Hemden die Figur besser. Wer alte Postkarten von hier kennt (und es gibt sie auch noch in vielen Trafiken zu kaufen), der sieht, die Moden haben sich geändert. Manche Moden hört man auch: Genagelte Schuhe? Passé. Stöckelschuhe auch.

Der erste Bezirk sieht anders aus ganz zeitig in der Früh.
Foto: Regine Hendrich

Wichtigkeit von früh bis spät

Der erste Bezirk ist gute Bühne für Wichtigkeit, jemand spricht im Vorbeigehen eilig in ein Diktafon, wer anderer kritzelt am Tisch vorm Café de l’Europe eifrig in einen Akt, einer ruft "Ich bin in zehn Minuten im Büro!" ins Telefon, um dann noch eine zu rauchen und das Gespräch am Tisch keine Sekunde zu unterbrechen. Junge und weniger junge Männer fahren im Anzug auf Rollern vorbei. Man grüßt einander im Vorübergehen, und selbst die mit dem Rücken zum Treiben Sitzenden drehen sich ständig um, man könnte etwas Wichtiges versäumen. Ältere Herren in interessanten Jeans lesen Zeitung und blättern auf dem Handy Fotos von leichtbekleideten Insta-Models durch, entweder ignorierend, dass es alle sehen können, oder damit rechnend, das bleibt ihr Geheimnis.

Eine Gruppe aus einem Bundesland, die einmal hier studiert hat und auf Ausflug ist, trinkt lärmend von früher sprechend Reparaturseidln. Jemand verkauft den Augustin. Am Nachbartisch treffen einander die perfekt geschminkten und gestylten Verkäuferinnen. Die Kellnerinnen und Kellner kennen alle und grüßen alle. Der Mann von der Müllabfuhr trinkt seinen Kaffee am Stehtisch, auch am Würstelstand trinkt man um diese Uhrzeit Kaffee. Die Leute vom Sicherheitsdienst besprechen sich vorm Juwelier. Ein Minihund springt aus seiner Tasche und wird angeleint.

Das Spiel beginnt ab neun Uhr

Der erste Bezirk sieht anders aus, morgens, zugeparkt mit all den Lieferwagen, die um neun Uhr verschwinden. Und er klingt auch anders: Türen klappern, Kleider werden auf Ständern Richtung Shop gerollt, Flaschen klirrend verräumt, ein Lkw dröhnt durch, dazwischen klappern die Kaffeetassen hinter der Theke, und Halbprivates wird verhandelt.

Erst später kommen die Leute, die hier wohnen und manchmal auch aussehen, als wohnten sie hier. Man hört das Wienerisch, das dem gemeinen Volk nur aus alten ORF-2-Filmen vormittags bekannt ist. Die Frisuren werden höher, die Bärte teurer, die Sonnenbrillen auch. Die Menschen mit Tagesfreizeit mehr. Die Selfie-Dichte höher. Das offizielle Tagesprogramm hat begonnen. Und zwei Stunden später schon ist man hier in einer völlig anderen Welt, das Spiel hat begonnen, Wien spielt sich selbst. Bis morgen früh. (Julia Pühringer, 25.7.2020)