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Der Verfassungsgerichtshof hat nichts Geringeres getan, als die zentralen Ausgangsregeln nichtig zu erklären.

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Das Ausmaß der Entscheidung sprengt die Bedeutung von "juristischen Spitzfindigkeiten", wie sie Sebastian Kurz seinen Kritikern nachsagte, bei weitem: Der Verfassungsgerichtshof hat nichts Geringeres getan, als die zentralen Ausgangsregeln, die ÖVP und Grüne während des Lockdowns ihrem Publikum eingetrichtert haben, für null und nichtig zu erklären. Die berühmten vier Gründe fürs Ins-Freie-Gehen hielten der Überprüfung durch die Gesetzeshüter ebenso wenig stand wie die selektive Lockerung der Geschäftssperren nach Größe und Branche.

Zumindest eine der beiden Regierungsparteien ist derartige Abfuhren durchaus gewohnt. Die Höchstrichter haben unter ÖVP-Kanzlerschaft schon andere legistische Meisterwerke – etwa die Reform der Mindestsicherung – zurückgeschmissen. Kaum drei Monate in Koalition, haben sich offenbar die Grünen, deren Vorzeigeminister Rudolf Anschober die unhaltbaren Verordnungen auf den Weg brachte, anstecken lassen. Hat der "Gesetzespfusch", den die Opposition bekrittelt, unter Türkis-Grün also Methode?

Der Fairness halber dürfen die Sündenfälle nicht über einen Kamm geschert werden. Bei der Mindestsicherung ist die ÖVP mit Anlauf gegen die Wand gefahren. Von Beginn an hagelte es massive Einwände – doch noch größer war die Verlockung, die vermeintliche Kürzung der Sozialhilfe für Ausländer über Monate als großen türkisen Erfolg abzufeiern. Kurz hat den absehbaren Crash vor dem Höchstgericht aus parteipolitischem Kalkül in Kauf genommen.

Ein derartiger Hintergedanke ist in der aktuellen Causa nicht erkennbar. Die Grünen zogen keinen propagandistischen Profit aus dem Umstand, dass das Ministerium das Betretungsverbot für öffentliche Orte unzulässigerweise zur Regel erklärte, statt dieses präziser einzugrenzen; da ist die Erklärung von Vizekanzler Werner Kogler, der die Schnitzer mit Zeitdruck beim Kampf gegen das Virus entschuldigt, plausibel. Hudelei hat sich mit Überforderung gepaart – plus einer Portion Ignoranz und Überheblichkeit. Denn auch bei den Corona-Regeln hat es nicht an Warnungen namhafter Juristen gefehlt.

Ja, es gibt auch Fachleute, die in der richterlichen Argumentation Beckmesserei – um nicht zu sagen: Spitzfindigkeiten – erkennen. Dennoch: Der Verfassungsgerichtshof ist nun einmal höchste Instanz. Die Regierungspolitiker sollten die jüngsten Entscheidungen deshalb mit Demut annehmen und Möglichkeiten zur Kompensation bezahlter Strafen ausschöpfen. Das gilt für Minister Anschober, der Bedenken eilig vom Tisch gewischt hat, ebenso wie für Kanzler Kurz, der seine Flapsigkeiten herunterschlucken sollte.

Es ist eben nicht – wie der ÖVP-Chef suggeriert hat – egal, wenn die Höchstrichter nachträglich Verordnungen aufheben, die längst außer Kraft sind. Die Verfassung dient nicht dem Zeitvertreib einiger Rechtsgelehrter, sondern dem Schutz der Grundrechte. Schludriger Umgang senkt die Hemmschwelle für weiteren Missbrauch, der statt aus Versehen auch aus kalter Berechnung stattfinden kann.

Außerdem erschüttern legistische Bruchlandungen das Vertrauen in Politiker und Behörden. Der Effekt kann sich gerade in Zeiten der Pandemiebekämpfung drastisch niederschlagen: Erwecken die Vertreter des Staates den Anschein der Willkür, untergräbt das die Bereitschaft, sich künftig an Corona-Regeln zu halten. (Gerald John, 22.7.2020)