Die charakteristischen Pfeilspitzen der Clovis-Kultur
Foto: Bill Whittaker

Die Clovis-Menschen galten bis in die 1980er-Jahre weitgehend einhellig als Wurzel aller späteren indigenen Völker Amerikas. Die bis dahin ältesten Spuren menschlicher Besiedelung auf dem Doppelkontinent waren charakteristisch geformte Pfeilspitzen und Werkzeuge aus Stein, Elfenbein oder Knochen. Die ersten dieser Artefakte wurden 1927 in den Überresten eines ausgestorbenen Riesen-Bison entdeckt.

Die wachsende Zahl an archäologischen Funden zeichneten gemeinsam mit Genanalysen (unter anderem von einem den Clovis zugeordneten Kinderskelett) ein freilich lückenhaftes Bild von der ersten flächendeckenden Kultur der neuen Welt, die sich vor rund 13.000 Jahren von Nord- bis Mittelamerika auszubreiten begann. Die Vorfahren dieser Menschen, so die These, waren gegen Ende der letzten Kaltzeit aus dem Norden entlang der allmählich eisfreien Küsten der Landbrücke Beringia auf den neuen Heimatkontinent gekommen. Am Übergang von Pleistozän zum Holozän verschwanden auch die meisten Angehörigen der nordamerikanischen Megafauna.

Es ist doch etwas komplizierter

Dieses Bild der Clovis-Kultur hat sich jedoch mittlerweile gewandelt und einer komplizierteren Besiedelungsgeschichte Platz gemacht. Schuld daran sind vor allem Gebeine, Werkzeuge und andere Artefakte, die bei Ausgrabungen unter anderem in Texas, Oregon, Alaska und sogar Chile ans Licht kamen und auf eine Jahrtausende frühere Einwanderung durch andere Kulturen schließen lassen – offenbar sogar deutlich früher als viele für möglich hielten: Nun im Fachjournal "Nature" präsentierte Funde datiert das erstmalige Auftreten des Menschen auf dem Doppelkontinent noch einmal um mehr als ein Dutzend Jahrtausende zurück.

Die Chiquihuite-Höhle erwies sich als reichhaltige Fundgrube für Prä-Clovis-Artefakte.
Foto: Devlin A. Gandy

Bei Ausgrabungen in der Chiquihuite-Höhle in einem von Drogenkartellen kontrollierten Bergland im Norden Mexikos stieß ein Team um Ciprian Ardelean von der Autonomen Universität von Zacatecas in unterschiedlichen Bodenschichten auf Tausende Steinwerkzeuge. Die archäologische Analyse der Werkzeuge und die DNA-Untersuchungen der Sedimente in der Höhle lassen bei den Wissenschaftern mittlerweile kaum einen Zweifel: Menschen lebten schon vor 25.000 Jahren, vielleicht sogar vor 30.000 Jahren in Amerika – auf ein solches Alter wurden die untersten Fundschichten jedenfalls datiert.

Ältestes Hotel der Neuen Welt

"Seit Jahrzehnten diskutieren die Menschen leidenschaftlich darüber, wann die ersten Menschen nach Amerika kamen. Die Chiquihuite-Höhle wird diese Debatten noch weiter befeuern", sagt Eske Willerslev von der Universität Cambridge, Hauptautor der Studie. Die Artefakte gewähren auch Einblicke in die Lebensweise ihrer einstigen Besitzer: Wahrscheinlich nutzten die frühesten Besucher der Höhle diese nur zu einem bestimmten Teil des Jahres als Unterschlupf, vielleicht als saisonales Lager, von dem aus auf migrierende Tiere Jagd gemacht wurde. "Diese Höhle könnte also das älteste 'Hotel' Amerikas sein", so Willerslev.

Wie es häufig bei solchen fundreichen Ausgrabungen ist, werfen die Ergebnisse des mehrjährigen Grabungsprojektes mehr Fragen auf, als sie beantworten. "Wir wissen weder, wer diese Menschen waren, woher sie kamen, noch wohin sie schließlich gingen – sie sind ein völliges Rätsel", sagt Ardelean. "Wir gehen fälschlicherweise davon aus, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen in Amerika heute direkte Nachkommen der frühesten Amerikaner sind." In Wahrheit dürfte es aber wohl einige gescheiterte Einwanderungsversuche gegeben haben, die kaum genetische Spuren in der heutigen Bevölkerung hinterlassen haben.

Über drei Meter tief reichten die Bodenschichten der Chiquihuite-Höhle. In ihnen fanden die Archäologen fast 2.000 Werkzeuge.
Foto: Devlin A. Gandy

Keine menschliche DNA

Die Chiquihuite-Höhle liegt in einer Höhe von 2.750 Metern über dem Meeresspiegel und konnte so als Aussichtspunkt gedient haben. Fast 2.000 Steinwerkzeuge und kleine Werkzeugfragmente fanden die Wissenschafter im Untergrund der Grotte. DNA-Analysen der pflanzlichen und tierischen Überreste aus den Sedimenten datierten die dazwischen eingebetteten Werkzeuge auf ein Alter von 25.000 bis 30.000 Jahren. Menschliche DNA wurde keine gefunden, was darauf hinweist, dass die frühen Menschen nicht lange in der Höhle lebten. Die Forscher bleiben diesbezüglich aber optimistisch, immerhin haben sie noch Hunderte Erdproben vor sich, die sie auf Menschen-DNA untersuchen wollen.

"Wir haben DNA von einer Vielzahl von Tieren identifiziert, darunter Schwarzbären, Nagetiere, Fledermäuse, Wühlmäuse und sogar Känguru-Ratten", sagt Mikkel Winther Pedersen, Genetiker an der Universität Kopenhagen und einer der Hauptautoren der Arbeit. "Wir glauben, dass diese Menschen hier nur wenige Monate im Jahr verbrachten, vielleicht wenn Säugetierherden vorüberzogen, die wenig Erfahrung mit Menschen hatten und sich daher als leichte Beute erwies", meint Pedersen. "Diese Funde zeigen, dass wir überdenken müssen, wo wir künftig nach Spuren der ersten Amerikaner suchen müssen."

Ankunft vor dem letzten glazialen Maximum

Auch aus einer zweiten "Nature"-Studie von Lorena Becerra Valdivia und Thomas Higham von der Universität Oxford geht hervor, dass Menschen bereits vor dem Höhepunkt der letzten Eiszeit in Amerika lebten, die vor etwa 27.000 Jahren begann und vor 19.000 Jahren endete. Die Wissenschafter hatten Funde von 42 Ausgrabungsstätten in Nordamerika neu datiert. "Wenn also Menschen während des letzten glazialen Maximums hier waren, dann deshalb, weil sie bereits vorher angekommen waren", erklärte Ardelean. (tberg, red, 23.7.2020)