Wie nahe darf ein Schreiber dem Beschriebenen kommen?

Foto: APA / Georg Hochmuth

Mir ist es ergangen wie so vielen anderen auch: Ich bin aus allen Wolken gefallen. Am Mittwoch vergangener Woche war es, in aller Herrgottsfrüh. Der Morgenroutine folgend – Kaffee aufstellen, Katzen füttern, Computerkastl aufdrehen –, stolperte ich über jene STANDARD-Meldung, die Kollegin Renate Graber noch in der Nacht online gestellt hatte. "Riesiger Bilanzskandal im Burgenland aufgeflogen".

Normalerweise dauert es ein penibel einzuhaltendes Ritual lang, um wieder auf die Welt zu kommen. An diesem Mittwoch ging’s schneller. Man reagiert da wie instinktiv, konditioniert durch ein ganzes Tagesschreiberleben. Ich mailte also Kollegin Graber – der es bewunderungswürdig immer wieder gelingt, in Finanzdingen das Unterste zuoberst zu kehren –, wie es eben vorgesehen ist: "Wachtmeister Weisgram meldet sich zur Stelle!"

Im Lauf des Tages aber kamen mir – während der automatische Schreibarm eben schrieb, was zu schreiben war – doch ein paar Bedenken. Über Nacht verstärkten sich die. Am nächsten Tag mailte ich meinen Chefinnen und Chefs: "Liebe Leute, ich habe ein kleines Compliance-Problem. Ich kenne den Martin Pucher seit vielen Jahren gut."

Das Bedenken in Worte fassen

Die Chefs nahmen mir meine Skrupel nicht, im Gegenteil. Wir vereinbarten, dass ich zwar, wie bisher, Schadensberichte verfasse und Berichte über allfällige politische Konsequenzen. Ich möge aber auch versuchen, meine Bedenken in Worte zu fassen.

Vielleicht wollen DER STANDARD und ich nur päpstlicher sein als der Papst. Aber ich denke doch, dass die Bedenken durchaus ins Grundsätzliche gehen. Wie nahe darf ein Schreiber dem Beschriebenen kommen? Wo beginnt Verhaberung? Lässt sich Nähe überhaupt vermeiden in einem Ländchen wie dem Burgenland?

Aber wo fängt die durch die Nähe ermöglichte und erwünschte Farbechtheit der Beschreibung an, zu einer Behübschung zu werden? Spielt die Dauer einer Bekanntschaft eine Rolle? Die Intensität? Oder hat es vielleicht auch etwas mit der Tiefe zu tun, in die der gute Bekannte gerade stürzt?

Nicht nur im Sport- und Lokaljournalismus stellen sich solche Fragen jeden Tag aufs Neue. Eine klare, in Paragrafen fassbare Handlungsanleitung gibt es nicht. Ich hielt mich aber für versiert genug, diesen equilibristischen Herausforderungen zu begegnen. Bis zu diesem Mittwoch, dem mittlerweile schon historischen 15. Juli.

Der junge, hemdsärmelige Bankchef

Den Martin Pucher lernte ich in den späten 1990er-Jahren kennen. Als einen jungen, hemdsärmeligen Bankchef. Es hatte sich damals nicht nur die Commerzialbank aus dem Raiffeisenverband gelöst, sondern auch die regionale Volksbank aus ihrem Sektor. Das schien bemerkenswert genug, um nachzufragen.

Den Martin Pucher lernte ich in den späten 1990er-Jahren kennen. Als einen jungen, hemdsärmeligen Bankchef.
Illustration: Armin Karner

Ich klopfte bei Martin Pucher an. Wir sprachen rund 20 Minuten über steigende Overhead-Kosten der Zentrale und die teure Ostwanderung von Raiffeisen International. Dann sagte er: "Gemma was essen!" Im benachbarten Wirtshaus redeten wir gut zweieinhalb Stunden. Ausschließlich über Fußball. Und dabei blieb es all die Jahre.

Nur ein einziges Mal noch, 2004, kurz vor der EU-Osterweiterung, sprach ich mit ihm beruflich über Bankdinge. Es ging um die Frage, warum die Commerzialbank den Wettlauf ins nahe Ungarn nicht mitmache. Martin Pucher meinte, er warte lieber ab. Und sagte dann einen bemerkenswert beherzigenswerten Satz: "Schuster, bleib bei deinem Leisten."

Am Fußballplatz

Der Fußballplatz ist jener Ort, an dem sich die Leute – ja eh: Männer in der Hauptsache – besonders leicht nahekommen. Man jubelt, man liegt sich in den Armen, man schimpft wie ein Rohrspatz, man rechtet mit dem Schiedsrichter, den Eigenen, den Fremden.

In moderatem Umfang dürfen da auch Schreiber mittun, solange sie beim Schreiben sich dann wieder einkriegen und beherzigen, was ich dem zuweilen doch zum Echauffieren neigenden Pucher ein ums andere Mal ins Stammbuch zu schreiben versuchte: "Elfer ist, was der Schiri pfeift."

Der Fußballplatz ist jener Ort, an dem sich die Leute – ja eh: Männer in der Hauptsache – besonders leicht nahekommen.
Illustration: Armin Karner

Der SV Mattersburg hat 20 Jahre lang nicht nur den Fußballverrückten den Alltagstakt geschlagen, sondern einer ganzen Region einen eigentümlichen Stolz verliehen. Jeder Mattersburger fand – und findet jetzt leider wieder – überall in Österreich umstandslos jemanden zum Räsonieren. Keiner fragt: Mattersburg? Wo liegt das?

Der Aufstieg der Kicker und des Martin Pucher – von der fünften Leistungsstufe 1988 bis in den Europacup (2006, 2007) – schien vielen wie ein Symbol. Bundesligachef (2005–2009) war Pucher ja gar. Dem Abstieg 2013 folgte der Wiederaufstieg 2015. Die Spiele wurden zwar mau und mauer. Aber die Sache sah dennoch nachhaltig aus. Eine der schönsten Fußballakademien Österreichs ist hier entstanden.

In all den Jahren ist mir Martin Pucher gewissermaßen auch ans Herz gewachsen. Vielleicht schaffen andere das besser, sich da herauszuhalten. Aber wenn man mehr als 20 Jahre lang alle 14 Tage intensive 90 Minuten durchlebt, durchjubelt, durchstreitet oft, aber eigentlich meistens durchleidet Seite an Seite – das verbindet halt.

Wiglwogl

Viele Menschen in Mattersburg und um Mattersburg herum sind in einem ähnlichen Wiglwogl. Sie müssen sich ihr Verdammungsurteil über den Martin Pucher erst zurechtreden. Noch zu präsent ist ihnen jener Mann, der so gar nicht dem Typ eines Bankers entsprach. Und auch, nebenbei, nicht dem eines Fußballpräsidenten. Pucher war stets der fleischgewordene Gegensatz zu Hannes Kartnig. Ein bescheidener, unprätentiöser Du-und-ich, dem man auch gerne nachsah, wenn er etwas für das "einzigste" gehalten hat.

Mag sein, die Leute vergessen das einmal. Noch aber tun viele es nicht. Außer natürlich jene, denen die mutmaßlichen Pucher’schen Malversationen nicht nur ans Gemüt, sondern auch ans Börsel gehen. Da sind tragische, existenzbedrohende Fälle dabei. Lynchfantasien werden da und dort beredet. Steine seien bereits aufs Pucher’sche Wohnhaus geflogen. Auch dafür haben viele Verständnis. Die Polizei hat jedenfalls ihre Streifen im Bezirk verstärkt.

Differenzierte Debatte

An den Stammtischen – ich bin an einigen als Zaungast zugelassen – wird das heftig und kontrovers debattiert. Differenzierter jedenfalls, als es der Landeshauptmann getan hat, als er die U-Haft für Martin Pucher urgierte. Vielleicht war es sogar Hans Peter Doskozil, der meinen Compliance-Alarm hat schrillen lassen.

Am Tag, als der Bilanzskandal bekannt wurde, war er sicht- und hörbar gebeutelt von Zorn, Grant, Verdammungsbereitschaft. Von einer "Riesensauerei" sprach er; und davon, dass Martin Pucher sich gar nicht vorstellen könne, "was er da verbrochen hat".

Ich verstand diese landeshauptmännliche Erregung, no na. Aber würde ich das in diesen Worten schreiben, bekäme ich es mit dem Presserichter zu tun. Und zwar völlig zu Recht.

Sorge hatte ich eher, dass mein Wohlwollen aus Enttäuschungsgründen ins Gegenteil kippt.
Illustration: Armin Karner

Ich hatte keine Angst davor, dass ich mir und den Lesern den Martin Pucher schönreden würde wegen unserer langjährigen, wertschätzenden Bekanntschaft, die sich manchmal beinahe anfühlte wie eine Freundschaft. Vor allem in den vergangenen Jahren, als er nach einem Oberschenkelhalsbruch und zwei schweren Schlaganfällen geworden ist, was er im Grunde nicht verwinden konnte: hilfsbedürftig.

Die Trommel umschnallen

Sorge hatte ich eher, dass mein Wohlwollen aus Enttäuschungsgründen ins Gegenteil kippt. Aber auch ein Martin Pucher hat sich das "Sine ira et studio" verdient.

Kein Journalist – wir neigen manchmal dazu, das zu vergessen – ist ein Richter. Nicht einmal ein Schiedsrichter. Sondern nur ein Kleinrichter. So nannte man, das ungarische kisbíró eindeutschend, die Trommler, die einst durchs burgenländische Dorf zogen, um die Neuigkeiten unter die Leute zu bringen.

Ich werde natürlich auch in diesem Fall, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen, die Trommel umgeschnallt haben. Es kann nur sein, dass ich sie da und dort etwas vorsichtiger, bedächtiger, mag sein, zögerlicher rühre. Es war eine Frage der Redlichkeit, darzulegen, warum. (Wolfgang Weisgram, 25.7.2020)