Untersuchungen an Wikingergräbern haben erstmals wissenschaftlich belegt, dass das Pockenvirus Menschen seit mindestens 1.400 Jahren infiziert.

Foto: Hans Splinter

Orthopoxvirus variolae gilt als das tödlichste Virus weltweit: Es verursacht beim Menschen die Pocken, an der allein im 20. Jahrhundert 300 bis 500 Millionen Menschen starben, die Sterblichkeitsrate lag bei bis zu 30 Prozent. Das menschliche Pockenvirus wurde 1980 nach einer weltweiten Impfkampagne für ausgerottet erklärt. Dennoch gibt es auch heute noch in Zentral- und Westafrika Fälle, in denen das verwandte Affenpockenvirus auf den Menschen überspringt – mit vergleichbaren Symptomen, aber geringerer Sterblichkeit als bei den Echten Pocken.

Obwohl historische Schriften darauf hindeuten, dass es die Pocken bereits vor mehr als 3.000 Jahren gegeben haben könnte, ist unklar, wie lange das menschliche Pockenvirus vor seiner Ausrottung eigentlich zirkulierte. Physische Beweise sind rar – das bisher älteste Skelett, in dem das Virus genetisch nachgewiesen werden konnte, ist nur etwa 360 Jahre alt.

"Es gab also eine Diskrepanz von fast 3.000 Jahren zwischen dem, was gemeinhin über die Historie des Pockenvirus angenommen wird, und dem, was man tatsächlich darüber weiß", erklärt der Bioinformatiker Terry Jones, Leiter einer Arbeitsgruppe am Institut für Virologie von der Berliner Charité. Zusammen mit Kollegen des Lundbeck Foundation GeoGenetics Centre der University of Copenhagen und der University of Cambridge macht er sich auf die Suche nach genetischen Beweisen für ein früheres Auftreten des tödlichen Erregers.

In Wikingergräbern fündig geworden

"Wir haben also versucht, mithilfe moderner molekularbiologischer Methoden wissenschaftliche Belege für die schriftlichen Hinweise auf ein früheres Auftreten der Pocken zu finden", sagt Jones. Der Ansatz war schließlich von Erfolg gekrönt: Das Team entdeckte das Variolavirus in bis zu 1.400 Jahre alten Gebeinen aus Wikinger-Grabstätten in Dänemark, Norwegen, Schweden, Russland und England.

Für ihre Analyse untersuchten die Wissenschafter das Erbgut von fast 1.900 Skeletten, die zwischen 150 und mehr als 30.000 Jahre alt waren und in Europa und Amerika gefunden wurden. In 13 Fällen gelang es ihnen, aus den Zähnen bzw. einem Teil des Schläfenbeins der Verstorbenen DNA-Fragmente des menschlichen Pockenvirus zu isolieren. Dass es sich tatsächlich um alte DNA handelte, belegten die spezifischen Alterungsschäden an dem Erbmaterial.

Elf der Menschen, bei denen das Virus nachgewiesen werden konnte, hatten zwischen etwa 600 und 1050 gelebt – also auch während der Wikingerzeit (793 bis 1066). "Unsere Studie liefert damit zum ersten Mal einen molekularbiologischen Beweis dafür, dass bereits die Wikinger vom Pockenvirus infiziert wurden", sagt Barbara Mühlemann, Erstautorin der im Fachjournal "Science" veröffentlichten Studie. "Wir konnten so die Diskrepanz zwischen historischen Anekdoten und direktem Pocken-Nachweis um etwa 1.000 Jahre reduzieren. Wir halten es aber für wahrscheinlich, dass es noch frühere Infektionen gab."

Die transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme aus dem Jahr 1975 zeigt menschlicher Pockenviren.
Foto: CDC / Dr. Fred Murphy

Kein Mitbringsel der Kreuzritter

Die neuen Forschungsergebnisse widersprechen verschiedenen bisherigen Annahmen, nach denen die Pocken beispielsweise erst durch zurückkehrende Kreuzritter im 11. bis 13. Jahrhundert nach Europa gebracht wurden. "Auf Basis der jetzt nachgewiesenen Pockenfälle in Nordeuropa und historischer Erzählungen über mutmaßliche Fälle in Süd- und Westeuropa gehen wir davon aus, dass das Pockenvirus spätestens seit dem Ende der Wikingerzeit in Europa weitflächig zirkulierte", resümiert Jones.

Einige der Proben waren so gut erhalten, dass die Forscher anhand der extrahierten Fragmente die komplette Sequenz des Virus-Erbguts am Computer rekonstruieren konnten. Die Analyse der Sequenzen ergab, dass sich das Pockenvirus, das zu Zeiten der Wikinger zirkulierte, deutlich vom Variolavirus des 20. Jahrhunderts unterschied – und den Pockenviren, die heute in Kamelen und Rennmäusen zirkulieren, mehr ähnelte. Das alte Virus wies ein ganz anderes Muster aktiver und inaktiver Gene auf.

Evolution des Pockenvirus komplexer, als angenommen

"Einige dieser Gene beeinflussen unter anderem die Spezifität von Pockenviren für ihren Wirt", erklärt Mühlemann. "Das Aktivitätsmuster im Pockenvirus der Wikingerzeit könnte bedeuten, dass das Virus damals nicht nur den Menschen, sondern auch Tiere befallen konnte." Wie hoch die Sterblichkeit war oder welche Symptome das alte Virus hervorrief, lässt sich allerdings nicht ableiten – auch wenn die genetischen Daten darauf hinweisen, dass das Virus bei den Wikingern auch Fieber hervorgerufen haben könnte.

"Wir hatten nicht mit einer solchen genetischen Diversität des menschlichen Pockenvirus gerechnet, das hat uns wirklich überrascht. Die Evolution des Pockenvirus ist deutlich komplexer, als wir angenommen haben", sagt Jones. "Wenn das menschliche Pockenvirus in der Vergangenheit so unterschiedlichen genetischen Pfaden gefolgt ist, könnten sich auch die noch immer zirkulierenden Tierpockenviren ähnlich weitgefächert entwickelt haben – mit möglichen Folgen für die Übertragung der Erkrankung vom Tier auf den Menschen", meint der Wissenschafter. "Wir sollten die Tierpockenviren in Zukunft deshalb besser im Blick behalten." (red, 27.7.2020)