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Wie konnte der als "ungesellig" beschriebene Max Reinhardt zum Mittelpunkt der europäischen Theatergesellschaft werden? Sybille Zehle macht sich in ihrer stattlichen Biografie auf die Spur des "Zauberers".

Foto: akg-images/Picturedesk

Den vielen Widersprüchen der Salzburger Festspielgeschichte geht in persona einer der zentralen Gründungsherren voran: Max Reinhardt (1873–1943). So wie die Festspiele in einer globalen Kleinstadt ein "Welttheater" ausriefen, so wie ihr Grundgedanke, Kunst "für alle" anzubieten, stets mit dem Elitismusvorwurf kollidiert, so war es ausgerechnet der älteste Sohn einer jüdischen Wiener Familie, der den Pomp und die Feierlichkeit der katholischen Kirche für das Theater zu nutzen wusste. Ihm ist im Jubiläumsjahr nun eine neue, opulente Biografie gewidmet: Max Reinhardt. Ein Leben als Festspiel von Sibylle Zehle.

Die 50 Euro, die der in Leinen gebundene Prachtband im Brandstätter-Verlag kostet, ist er allemal wert. Zehle, Journalistin und Buchautorin, unterfüttert auf über 300 Seiten die Lebens- und Wirkungsgeschichte des Regisseurs mit aussagekräftigen Zitaten und fundiertem Society-Wissen. Hier kommen also nicht nur Theater-Aficionados auf ihre Kosten. Das Buch hält die Waage zwischen Theatergeschichtskunde und Celebrity-Report.

Der Traum vom Ausnahmezustand

Auch wenn die Autorin die weniger rühmlichen Seiten Reinhardts nicht ausspart, so dient hier doch alles der Huldigung. Schon die allererste Abbildung ist ein Indiz für den Personenkult: Reinhardts Reisetasche aus Krokoleder und mit Goldinitialen. Da war Yves Saint Laurent noch lange nicht geboren.

Reinhardt hat, trotz seines Rufs als großer Schweiger, für seine Idolisierung genügend Stoff geliefert. Diese Widerspruchslinien zeichnet die Biografie mehrfach nach: Wie konnte ein als geradezu "ungesellig" beschriebener Mensch so derart zum Mittelpunkt der europäischen Theatergesellschaft werden? Wie konnte ein ökonomisch unbegabter Schöngeist zum Konzernleiter aufsteigen? Und wie rasch ging es, dass der erfolglose Banklehrling aus einfacher Familie mit sieben Geschwistern und ohne Realschulabschluss plötzlich Theaterkönig in Berlin, Salzburg und später Amerika wurde? Fritz Kortner meinte gar, bei Reinhardt sei man stets auf "Audienz" gewesen.

All das liest man in Zehles Biografie wie in einem spannenden Logbuch – vorausgesetzt, man lässt den stellenweise manierierten Tonfall außer Acht. Dazu gehört auch die altertümliche Kaprice, arrivierte Schauspielerinnen beharrlich ohne Vornamen anzuführen, sie also zum Beispiel also "die Thimig" (Reinhardts zweite Ehefrau) zu betiteln. Zudem taucht an manchen Stellen aus heiterem Himmel das Recherche-Ich auf, als würde die Autorin ihre Feldforschungen zusätzlich beglaubigen wollen. Doch das sind nur Formalitäten, die nicht ins Gewicht fallen. Beachtlich sind die Informationsfülle und ihre lukullische Aufbereitung.

Kaiserliche Fans

Die Biografie rückt, auch wenn sie zum 100-Jahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele erscheint, diese keineswegs ins Zentrum. Nur eines der insgesamt fünf Kapitel ist der barocken Alpenstadt gewidmet, und auch da wird nicht geschönt, sondern ernüchternd festgehalten, dass es um ein Haar auch Engadiner Festspiele hätten werden können. Und auch wenn es später Pläne für Kalifornische und New Yorker Festspiele gab, so ist doch Salzburg heute der Ort, wo Reinhardts Festspielidee umgesetzt wurde und bis heute lebt.

Reinhardt hat dem Theater damals nicht einfach einen neuen Inszenierungsstil gebracht, sondern mit seinen Ideen (Abwendung vom Pathos hin zur Poesie und Seelenerkundung) überhaupt erst einmal die Fahne der Regie in den Boden gerammt. Mit ihm wurde der Regieberuf erfunden.

Dazu gehört auch seine Fantasie von einem Großraumtheater, das die Feierlichkeit, den Ausnahmezustand markiert (Drehbühne!). Seine Durchbruchsinszenierungen von Nachtasyl oder Ein Sommernachtstraum entstanden in Reinhardts Erfolgsjahren in Berlin, die er 1894 als Schauspieler am Deutschen Theater begann und die er später als multipler Theaterleiter ruhmreich fortsetzte. Das Reinhardt-Ensemble wirkte wie ein Magnet, die Söhne Kaisers Wilhelms gehörten zu seinen Fans, Gastspiele folgten in ganz Europa, zeitweise bespielte der "Herr Professor" zehn Bühnen gleichzeitig.

Hofiert in Hollywood

Das setzte penibles Planen und Arbeiten voraus – Reinhardts präzise Regiebücher sind bekannt (im Hollitzer-Verlag erscheint das faksimilierte Jedermann-Regiebuch). Um die wirtschaftlichen Belange kümmerte sich Reinhardts Bruder Edmund. Entscheidend waren immer die PR-Verbindungen, das hat sich bis heute nicht geändert. Und zeitweise gewinnt man beim Lesen den Eindruck, Reinhardt habe ein Klein-Hollywood für Theater aufgebaut.

Schloss Leopoldskron nahe Salzburg, das Reinhardt als Sommersitz erwarb, wurde zum Treffpunkt für Aristokratie, Politik, für Mäzene und Stars – von Winston Churchill bis Cole Porter, von William Somerset Maugham bis Mrs. Roosevelt. Erst mit Klatschfaktor berichtete auch die New York Times: welche Hotels, welche Gäste, welche Klamotten. In Leopoldskron tranken dann alle aus den mit Reinhardts Initialen verzierten Gläsern. Man wähnt sich beim Lesen des Öfteren wahrlich in einer Folge der Aristo-Serie Downton Abbey.

"Jedermann" mit schwarzem Cast

Eine Zweihundertschaft an Bildern geleitet durch die Zeit herauf bis in die Exiljahre, als Reinhardt von Warner Bros. zunächst hofiert wurde und die sogenannte Hollywood-Bowl, die 15.000 Zuschauer fasste, mit dem Sommernachtstraum bespielte. Ein Kassenschlager. Und zwischendurch lassen sich auch bemerkenswerte Pläne Max Reinhardts ausmachen, die vom visionären Zuschnitt seiner Theatergedanken zeugen. Er wollte Greta Garbo als Hamlet (sie sagte zu, aber Geldgeber fehlten) und – noch erstaunlicher: Reinhardt überlegte eine Jedermann-Inszenierung mit schwarzem Cast! Was heute am Theater als konzeptuelle Avantgarde gefeiert wird, hatte der konservative "Zauberer" schon 1943, in seinem Sterbejahr, am Tapet. (Margarete Affenzeller, 27.7.2020)