In seinem neuen Buch widmet sich der US-Politikwissenschafter David Stasavage dem Auf- und Abstieg der Demokratie. Im Gastkommentar betrachtet er die Briefwahldebatte in den USA aus historischer Perspektive.
Während die USA auf ihre wohl bedeutsamste und umstrittenste Präsidentschaftswahl seit sehr langer Zeit zusteuern, ist dort die Briefwahl in aller Munde. Einige halten diese Möglichkeit für notwendig, um inmitten der Covid-19-Pandemie den Zugang zu Wahlen für alle zu gewährleisten, insbesondere für Arbeiter und Minderheiten, die unverhältnismäßig hohe Infektionsraten aufweisen. Andere wiederum, darunter Präsident Donald Trump, sprechen sich lautstark gegen die Briefwahl aus und verweisen auf ein angebliches Betrugsrisiko.
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Dieses Argument ist ein Schwindel – und auch nicht ganz neu. Schon in den letzten sechs Jahrhunderten versuchten diejenigen, die eine Einschränkung des Wahlrechts anstrebten, ihr Ziel zu erreichen, indem sie auf die Notwendigkeit pochten, die "Integrität" des Wahlsystems zu wahren.
Historisches Beispiel
Man denke an England im frühen 15. Jahrhundert. Zu dieser Zeit entsandte jede englische Grafschaft zwei Ritter, die "Knights of the Shire", als Vertreter in das Parlament. Und weil es kein formelles Gesetz gab, in dem geregelt war, wie diese Ritter – im Wesentlichen ein Ehrentitel – ausgewählt werden sollten, kam es dem Sheriff jeder Grafschaft zu, eine Wahl zu organisieren.
Traditionell waren alle freien männlichen Einwohner einer Grafschaft berechtigt, daran teilzunehmen, während Frauen ausgeschlossen blieben. Einige dieser Wahlen verliefen ohne Zweifel chaotisch und undiszipliniert, aber sie ermöglichten eine weit höhere (männliche) Beteiligung, als dies bald der Fall sein würde. Im Jahr 1429 überreichten die Mitglieder des Unterhauses König Heinrich VI. ein Bittgesuch, einem neuen Gesetz zuzustimmen, das vorgeblich den friedlichen Ablauf der Parlamentswahlen in den Grafschaften sicherstellen sollte. Darin hieß es, dass es ohne dieses Gesetz höchstwahrscheinlich zu "Tötungen, Unruhen, Übergriffen und Spaltungen" kommen werde. Mit anderen Worten: die Befürworter des Gesetzes behaupteten, die Integrität des Wahlprozesses sei in Gefahr.
Allerdings verriet die von den Parlamentariern vorgeschlagene Methode zur Lösung des wahrgenommenen Problems ihre wahren Beweggründe. Sie forderten, das Wahlrecht bei den Wahlen in der Grafschaft auf Männer zu beschränken, die Land mit einem jährlichen Ertrag von mindestens 40 Schilling besaßen – eine zu dieser Zeit beträchtliche Summe.
Die Ursache des Problems war nach Ansicht der Gesetzesbefürworter "die zu große und übermäßige Zahl von Menschen", die sich an den Wahlen beteiligt hatten. Die 40-Schilling-Regel wurde 1430 in England Gesetz und sollte erst mit der Verabschiedung des Reformgesetzes von 1832 durch das Parlament aufgehoben werden.
Verdächtigungen und Heucheleien
Mit diesem Reformgesetz war das Parlament endlich zur Auffassung gelangt, dass es sich bei der 40-Schilling-Regel um einen Anachronismus gehandelt hatte. Doch dann brachte eine erneute Wendung in der Geschichte ein Charakteristikum von Wahlen mit sich, das wir heute als heilig betrachten. Einige Parlamentsabgeordnete setzten sich nämlich nicht nur für eine Ausweitung des Wahlrechts ein, sondern auch für die geheime Stimmabgabe bei den Unterhauswahlen. Seit eh und je waren die Wahlen in den Grafschaften in aller Öffentlichkeit über die Bühne gegangen, wodurch Menschen mit entsprechender materieller Ausstattung die Möglichkeit hatten, andere durch Einschüchterung oder Bestechung zur gewünschten Stimmabgabe zu bringen.
Es sollte allerdings noch weitere 40 Jahre dauern, bis das Parlament schließlich das Wahlgesetz von 1872 verabschiedete. Einer der Hauptgründe für die verzögerte Einführung der geheimen Wahl bestand im Argument ihrer Gegner, wonach diese Art der Wahl – wieder einmal – die Integrität des Wahlprozesses gefährden würde. Einige Abgeordnete hatten die geheime Wahl bereits 1830 vorgeschlagen, aber das damalige Gegenargument lautete, dass eine derartige Maßnahme zu "ewigen Verdächtigungen und Heucheleien" führen würde. Im Jahr 1862 äußerte sich ein weiterer Gegner der geheimen Wahl in beinahe gleicher Weise und behauptete, diese sei keine "Kontrolle der Bestechung, sondern würde sie vielmehr fördern, weil eine geheime Stimmabgabe in vielen Fällen die Aufdeckung der Bestechung verhindere".
Und heute?
Traurigerweise finden derartige Argumente heute in den USA ihren Nachhall, wo man in ein neues Zeitalter der Wahlbeschränkungen eingetreten ist, die an den Wahlrechtsentzug für Afro-Amerikaner in der Vergangenheit erinnern. In den letzten Jahren haben 25 US-Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die die Stimmabgabe erschweren. Außerdem haben Bundesstaaten durch die zahlenmäßige Verringerung der Wahllokale auch die Wahlbeteiligung eingeschränkt.
Die klare Wirkung dieser Maßnahmen besteht darin, die Bedingungen für die Wahlteilnahme für einkommensschwache Bevölkerungsteile und Minderheitengruppen zu verschlechtern. Ähnlich wie in England vor 600 Jahren, ist das erklärte Ziel – die Bewahrung der Integrität des Wahlprozesses – lediglich ein praktischer Vorwand.
Engstirnige Parteipolitik
In der US-Debatte um die – von einer großen Mehrheit erwachsener Amerikaner unterstützte – Briefwahl malen die Gegner einer breiten Teilnahme an Wahlen erneut das Gespenst des Betrugs und der Korruption an die Wand, um engstirnige parteipolitische Ziele zu verfolgen. Ohne irgendwelche Beweise vorzulegen, behaupten sie, dass dieses neue Wahlsystem irgendwie zu größeren Unregelmäßigkeiten neige als die traditionelle persönliche Stimmabgabe.
Die wahre Angst Trumps und anderer ist allerdings, dass sich aufgrund der Briefwahl die Wahlbeteiligung erhöht und damit den Kandidaten der Demokraten hilft, obwohl es in Bundesstaaten, wo die Briefwahl bereits erlaubt ist, keinen Beleg für derartige Auswirkungen gibt. Wir können nur hoffen, dass die Befürworter des erweiterten Wahlrechts ihre Erfolgsserie am Ende wieder fortsetzen können. (David Stasavage, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 28.7.2020)