"Die Europäische Union hat eine Chance verpasst, dieses enorme Geldpaket an die Rechtsstaatlichkeit zu binden. Orbán ist der Sieger und bekommt Milliardenbeträge nur weil er damit gedroht hat, den Gipfel scheitern zu lassen … Ungarn und Polen sind nochmals davongekommen, obwohl sie demokratische Werte mit Füßen treten … Merkel wusste natürlich, was Orbán vorhatte. Aber sie hatte nicht den politischen Willen, Orbán zu konfrontieren." Diese Wertung der in Brüssel ansässigen irischen Politologin Judy Dempsey in der "NZZ" klingt anders als die selbstzufriedenen Erklärungen der meisten EU-Spitzenpolitiker. Sie erklärt zugleich die Art und Weise, wie Viktor Orbán selbst, zusammen mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki nach dem Gipfel aufgetreten ist.

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in Brüssel.
Foto: AP/Francois Lenoir

In seinem wöchentlichen Radiointerview brüstete sich Orbán damit, dass "die ungarischen und polnischen Kräfte den internationalen Angriff der liberalen Brigaden abgewehrt haben, die durch die Einführung eines Finanzmechanismus uns erpressen wollten". Zwei Tage nach seiner "gewonnenen Schlacht in Brüssel", so der Regierungschef wörtlich, trat sein Apparat in Aktion zur Ausschaltung der beliebtesten unabhängigen Nachrichten-Website des Landes, "Index". Die Details und die Folgen dieser von langer Hand vorbereiteten Aktion wurden im STANDARD detailliert geschildert. Seit 2010, dem Anfang des Aufbaus von Orbáns "Führerdemokratie", so der Politologe András Körösényi, und seit 2015, dem Sieg Jarosław Kaczyńskis in Polen, sind beide Regierungen wegen des Abbaus des Rechtsstaates und der Medienfreiheit durch Resolutionen des EU-Parlaments und Beschlüsse der EU-Kommission wiederholt ermahnt und unter Druck gesetzt worden. Es wurde bei dem Gipfeltreffen zwar erstmals ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit als Bedingung für die EU-Subventionen festgelegt, aber über die praktische Durchsetzung findet man im Kommuniqué nichts. Der deutsche Außenminister Heiko Maas gab offen zu: "Die Arbeit zur Umsetzung in konkrete Rechtsverordnungen liegt noch vor uns." Das Europaparlament hat den "faulen Kompromiss" schon abgelehnt.

Polen und Ungarn pochen auf das Einstimmigkeitsprinzip. Was immer eine qualifizierte Mehrheit (15 Staaten, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) zum Schutz des Rechtsstaats beschließt, die polnischen und ungarischen Regierungen könnten es im Europäischen Rat der 27 Staats- und Regierungschefs mit ihrem Veto vereiteln. Orbán bereitet seinen Machtapparat auf künftige Kämpfe vor: Ungarn habe jetzt nur eine wichtige Schlacht gewonnen, keinen Krieg!

Im Herbst fallen die Würfel, ob die EU als Vorbild der europäischen Werte gelten darf. Es geht ja nicht nur um Ungarn und Polen. Wer kann von Rechtsstaatlichkeit im brodelnden Bulgarien oder im zutiefst korrupten Rumänien sprechen? In Slowenien regiert der Orbán-Freund Janez Janša, und in Tschechien ein korruptionsverdächtigter Andrej Babiš. Dass Orbán und Kaczyński die Flurbereinigung in der Medienwelt und in der Justiz auch nach dem Gipfel forcieren, zeigt, wie trüb die Aussichten für eine Durchsetzung der Brüsseler Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit sind. (Paul Lendvai, 28.7.2020)