Das Schicksal von "index.hu" brachte in Ungarn tausende Menschen auf die Straße. Ihre Forderung: Freies Land, freie Presse.

Foto: AFP / Attila Kisbenedek

Ungarns meistgelesenes Internet-Portal, index.hu, steht vor dem Ende. Die Machenschaften der Eigentümer aus dem Umfeld des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán führten Mitte letzter Woche zur Entlassung des von der Redaktion gewählten Chefredakteurs Szabolcs Dull (DER STANDARD berichtete). Vergangenen Freitag reichten praktisch alle Redakteure und Mitarbeiter ihre Kündigung ein. Zuvor war ihre Forderung, Dull wieder in sein Amt einzusetzen, bei den Eigentümern auf Ablehnung gestoßen.

Noch erscheint die Webseite, ihre Mitarbeiter gehen noch zur Arbeit, ihre Kündigungen sind arbeitsvertraglichen Fristen unterworfen. Doch das Erscheinungsbild der Seite vermochte am Montag die Spuren der vorangegangenen Stürme nicht zu verbergen: Viel Material der staatlichen Nachrichtenagentur MTI und nur wenige selbst recherchierte Artikel füllten sie. Dem Branchenportal media1.hu zufolge versuchen die Eigentümervertreter hektisch, neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Wie auch immer dies ausgehen mag: index.hu wird nicht mehr das sein, was es einmal war.

Jenseits der Lager

Damit geht auch ein gutes Stück Mediengeschichte in Ungarn zu Ende. Vor 21 Jahren von Journalisten, Privatleuten und Kleinanlegern gegründet, brachte index mit sprachlichen, multimedialen und inhaltlichen Innovationen einen frischen Wind in die bis dahin eher dröge ungarische Medienlandschaft – und unverbrauchte Ideen. Auffallend war auch, dass sich das Portal keinem der damals schon klar konturierten politischen Lager – dem konservativ-populistischen oder links-liberalen – zuordnen ließ. index.hu deckte auf und teilte aus, egal welcher Couleur die Missetäter und Korruptionisten waren.

Wirtschaftskrisen und -nöte führten um 2005 zu einer Veränderung der Eigentümerstruktur. Orbáns Fidesz-Partei war damals in Opposition. Die Leute um den Banker Zoltán Spéder, die das Betreiberunternehmen übernahmen, galten damals als Exponenten des gemäßigten Fidesz-Flügels.

Nach Orbáns erdrutschartigem Wahlsieg 2010 fiel jedoch Spéder in Ungnade. 2017 musste er die meisten seiner Besitzungen abtreten, darunter auch index. Damals schuf man jene Konstruktion, die künftig die Unabhängigkeit des Portals und die Autonomie der Redaktion absichern sollte. Zwischen die Eigentümerfirma und das Portal wurde eine Stiftung eingezogen, deren Präsident und einziger Entscheidungsbefugter der langjährige Anwalt des Portals, László Bodolai, wurde. Im Mai 2018 schimpfte Orbán, als ihn ein index-Reporter bei der Einweihung eines renovierten Schlosses etwas fragen wollte: "index ist eine Fake-News-Fabrik, zu euch sage ich nichts."

Seitenwechsel

Die Lage verschärfte sich, als sich im März dieses Jahres der Geschäftsmann Miklós Vaszily unter die Eigentümer einkaufte. Vaszily war zwar auch ein früher index-Angestellter, hat aber inzwischen völlig die Seiten gewechselt. Er ist Orbáns Mann fürs Grobe bei der Liquidierung unbotmäßiger Medien. 2014 wickelte er das damals marktführende unabhängige Portal origo.hu ab, von 2015 bis 2018 war er Intendant der Staatsmedienholding MTVA, derzeit ist er auch Chef von TV2, einem regierungsnahen Boulevard-Sender. Im Juni brachten – auf Initiative Vaszilys – externe Berater neue Konzepte ins Spiel. So sollten die Ressorts des Portals index ausgegliedert werden, um mehr Einnahmen zu erzielen – ein durchsichtiges Manöver, um die autonome Redaktion zu zerschlagen. Chefredakteur Dull wehrte sich beharrlich gegen diese Pläne und machte sie publik. Bodolai, als Stiftungspräsident zum Briefträger degradiert, musste ihm kündigen.

In Ungarn wird davon ausgegangen, dass Vaszily jeden seiner Schritte mit Orbán abstimmt und von ihm genehmigen lässt. So erfolgte Dulls Entlassung zwei Tage, nachdem sich Orbán in Budapest für seinen "Triumph" beim Brüsseler EU-Sondergipfel feiern ließ. Tatsächlich waren die Beschlüsse zu den Corona- und Kohäsionsfonds, die die Auszahlungen von EU-Geld an die Rechtsstaatlichkeit hätten koppeln sollen, unter Orbáns Vetodrohung bis zur Unkenntlichkeit verwässert worden.

Den index-Redakteuren, die nahezu geschlossen kündigten, wogt nun in Ungarn eine Welle der Sympathie entgegen. Aus den Schritten der Fidesz-Leute lässt sich nämlich herauslesen, dass sie kein zweites origo erzeugen wollen – das Portal dieses Namens ist heute ein unbedeutendes Propagandasprachrohr der Orbánisten –, sondern dass sie das Portal unter Bewahrung der Leserschaft und einer gewissen Qualität in ein entpolitisiertes, leichtgewichtiges, boulevardeskes Medium umwandeln wollten. Doch wie es scheint, sind ihnen dafür die Redakteure abhandengekommen. (Gregor Mayer, 27.2.2020)