Gut 80 Prozent der Urlauber in Tirol kommen aus dem nahen Ausland. Heuer entdecken vielleicht ein paar Österreicher mehr die fesche Kulisse des Wilden Kaisers.

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Da stehen wir also auf dem Hartkaiser, die Sonne versinkt blutrot hinter den Tiroler Bergen, ein Falke zieht gemächlich seine Runden. Ein paar Kuhglocken läuten, sonst ist es mucksmäuschenstill. Eigentlich könnte die Zeit stehenbleiben, aber Helmut Schermer ist nicht nach Romantik zumute.

Das Berggebiet um Ellmau ist der Arbeitsplatz des umtriebigen Gleitschirmlehrers. Paragleiten steht heute noch auf dem Plan, sollte das Wetter mitspielen. "Dass es nicht regnet, verdanken wir nur diesem Fetzen an Wind", sagt er und berichtet von der Inversionswetterlage, die Luftmassen in einen Kanal drückt. Das klingt alles sehr poetisch, aber auch bedrohlich. Eigentlich ist Helmut, wie ihn alle nennen, ein Urgestein und die Ruhe in Person. Ein wenig nervös ist er nur, weil sich unser Zeitfenster, um den Tandemflug in den Sonnenuntergang zu starten, bald schließt. Und der Wind immer stärker wird. Corona-bedingt müssen Pilot und Gast einen Mundschutz tragen, aber sonst hat sich nicht viel verändert, die frische Lust lässt das Virus schnell vergessen.

Rock über Hose

Helmut erzählt, wie beeindruckt er von einer blinden Frau war, die mit ihm geflogen ist. Wie selbstbewusst sie über den Hügel gelaufen ist, um abzuheben. Die Schritte hat sie vorher abgezählt. Rund 11.000 Flüge hat er inzwischen absolviert, ihm ist nichts fremd, von Heiratsanträgen in der Luft bis zu Menschen, die panisch sind. "Angst ist nichts Negatives", sagt er, "es ist wichtig, sich zu konzentrieren und nicht zu denken: Der Helmut macht das schon." Es geht ihm auch um die Natur, die einen umgibt, für die man wach bleiben sollte. Wir sind auf dem Weg auf den Berg bei drei Murmeltierfamilien vorbeigekommen, ein wilder Hase hat die Straße überquert.

Helmut ist obendrein so etwas wie eine lebende Dorfchronik. "Schau, auf diesem Bergbauernhof haben zwei Schwestern gelebt, die zerstritten waren", hebt er an: "Sie haben eine Wand durch das Haus gezogen, jede hatte eine eigene Küche, eigene Hühner. Dann hat sich die eine erhängt." Wie eine Zeitreise sei es gewesen, der Überlebenden zu begegnen, mit ihren alten Skiern aus Holz, mit dem Rock über der Hose, wenn sie alle heiligen Zeiten ins Dorf gefahren ist, um einzukaufen. Eigentlich war sie ja Selbstversorgerin und nicht sonderlich gesellig. Helmut erzählt und erzählt, damit eine längst versunkene Epoche wieder lebendig wird. Manchmal sagt er dann auch: "Das schreibst aber jetzt nicht."

Beim Bergdoktor

Helmut ist in der kleinen Gemeinde Ellmau aufgewachsen, die im Winter wie im Sommer vom Tourismus lebt. Ein Großteil der Gäste kommt aus dem nahen Deutschland, aber auch aus Slowenien reisen normalerweise Busse an, um ein Selfie vor der Bergdoktorpraxis zu machen, die dem Tourismus neuen Drive gegeben hat. Seit 2008 wird die TV-Serie Der Bergdoktor in dieser Region gedreht. Letzten Winter war es arg voll, klagen viele im Dorf. Vor allem die Tagesausflügler lassen den Ort dann an den Rand der Kapazitätsgrenze kommen. An diesem regnerischen Sommerwochenende ist es erstaunlich ruhig, und man denkt sich: Warum steht Tirol auf der Reiseliste vieler Ostösterreicher eigentlich so weit hinten? Man sollte es nicht den deutschen Touristen überlassen.

Das Familienhotel Der Bär ist ein guter Ort, um hier auszuspannen. Vom schicken Outdoor-Pool sieht man direkt auf den Wilden Kaiser. Nach jeder Runde Schwimmen entdeckt man eine neue Szenerie: Einmal ist das Bergmassiv tief in Wolken gehüllt, dann bricht die Sonne fast unwirklich durch, wie auf religiösen Bildern, ein andermal prasselt der Regen auf das beheizte Becken nieder, und Dampfschwaden steigen auf.

Kaum heimische Gäste

Andreas Windisch, der Chef des Hotels, ist seit jungen Jahren mit Helmut, dem Fluglehrer, befreundet. Früher haben sie Paragleiten gemeinsam gemacht, haben Abenteuer erlebt – heute organisiert das Hotel Flüge für seine Gäste. Überhaupt sorgen Andreas und seine Frau Ursula dafür, dass man sich gleich wohlfühlt. Der Duft von Zirbenholz erledigt den Rest. Das Essen von Küchenchef Markus Feyersinger ist eine gelungene Mischung aus kulinarisch ambitioniert und doch bodenständig. Im weitläufigen Wellnessbereich kann man das kleine, rustikale Brechelbad, eine traditionelle alpine Trockensauna kostenlos reservieren (Corona sei Dank). In der finnischen Sauna und im Dampfbad gilt: Abstand halten, nur auf der obersten Bank sitzen.

Soeben hat eine Familie eingecheckt, die eigentlich auf Elba sein wollte. "Wir sind diesen Sommer gut gebucht", erzählt Ursula Windisch – obwohl einige Stammgäste nicht kommen können, wie jene Familie aus Australien, die sonst immer stolze vier Wochen in Ellmau verbringt. Gastgeberin Windisch bestätigt, dass einige aus Deutschland und der Schweiz anreisen, sich der Anteil an heimischen Gästen aber bislang in Grenzen hält.

Ketchup an die Wand

1958 wurde das Hotel errichtet, von 1974 bis 1992 führten es Lorette und Karl-Heinz Windisch wie ihren eigenen Betrieb. 1999 hat es die nächste Windisch-Generation gekauft und behutsam modernisiert. In Artikeln über das Hotel steht meist, keiner wüsste mehr, woher das Hotel Bär seinen Namen hat. Sie haben offensichtlich nicht mit Fluglehrer Helmut geredet. "Der Besitzer des Grundstücks war ein Schmied, er wollte es partout nicht verkaufen", erzählt er: "Aber der deutsche Tourismuspionier Hans-Joachim Strickrodt gab nicht auf, er kämpfte wie ein Bär – bis er sein Hotel bauen konnte." Das wäre also geklärt.

Schade nur, dass die Zeit zu kurz war, um über den Schauspieler Helmut Berger zu reden. Er war vor 50 Jahren mit dem Seniorchef Windisch in der Hotelfachschule. Der Exzentriker Berger war oft zu Gast im Bär, erhielt aber angeblich Hausverbot, nachdem er eine Flasche Ketchup an die Wand geworfen hatte. Vermutlich sollte man auch dazu Helmut, das lebende Ellmau-Lexikon, befragen. Wenn das Wetter ausnahmsweise einmal nicht mitspielt und der Tandemflug verschoben werden muss. (Karin Cerny, RONDO, 2.8.2020)