Vorsätze und Regeln haben zweierlei gemeinsam: Sie geben dem Leben, dem Alltag, der Arbeit, der Gemeinschaft, dem Privaten, dem Privateren und auch dem Öffentlichen ein Orientierungs- und Navigationssystem. Sie machen das eigene Verhalten strukturier- und plan-, das der Umwelt berechenbar. Sie geben Perspektive und Sicherheit.

Das klingt bieder und langweilig, ist aber gut und richtig so: Alleine der Vertrauensgrundsatz im Verkehr … und so weiter.

Zum anderen eint Regel und Vorsatz, dass man sie auch als Richtschnur dafür heranziehen kann, zu entscheiden, wann man sie bricht: Je klarer die Regel, je transparenter und nachvollziehbarer ihr Sinn, umso klarer kann man argumentieren, sie auszusetzen. Eine Ausnahme zu machen.

Etwa weil es – in einem speziellen erklärbaren Fall – eben sinnvoll ist. Weil es niemanden stört, behindert oder gefährdet. Oder – und das vor allem – weil es einfach menschlich ist.

Foto: Thomas Kaserer

Also breche ich hier den vergangene Woche halblaut gefassten Vorsatz, mich wieder mehr auf das Laufen an der Basis des Jedermenschsports zu fokussieren. Verschiebe den Plan, die jährliche Klickbait-Geschichte zur Frage des (männlichen) Oben-ohne-Laufens zu schreiben und sie mit einer grundsätzlichen Betrachtung über Lauf-Shirts und die tatsächlich spürbaren Unterschiede anhand von drei sehr unterschiedlichen Modellen und Labels zu kombinieren, auf nächste oder übernächste Woche. Und schreibe über Günther Matzinger.

Foto: Thomas Kaserer

Sollten Sie Günther Matzinger nicht kennen, sollten Sie googeln. Oder auf seine Webseite gehen.

Günther Matzinger ist 33 Jahre alt, stammt aus Tamsweg und zählt zu den erfolgreichsten Leichtathleten Österreichs: Er kann auf olympisches Gold, Welt- und Staatsmeistertitel verweisen – und gehört zu den ganz wenigen, die in Österreich nicht nur für, sondern auch von der Leichtathletik leben. Außerdem ist er behindert. Sein rechter Arm endet – von Geburt an – knapp unterhalb des Ellenbogens. Allerdings hinderte das Matzinger nie daran, auch Nichtbehinderten zu zeigen, wo Gott wohnt. Ganz allgemein im Leben – und speziell im Sport. 2013, zum Beispiel, wurde er Staatsmeister über 800 Meter. Ach ja: bei den Nichtbehinderten.

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Aber Matzinger spielt auf mehreren Ebenen in der Oberliga: 2012, als die heimische Sportpolitik Klagelieder anstimmte, weil "wir" bei Olympia in London nix rissen, hätte sie nur genauer schauen müssen. Denn bei den Paralympics – also den olympischen Bewerben der Behinderten – stand ein Österreicher mit zwei Goldmedaillen auf dem Stockerl: Günther Matzinger. Über 400 und 800 Meter.

Doch darum geht es heute gar nicht.

Heute geht es um Matzinger und den "Mostiman". Der Mostiman ist ein Triathlon in Wallsee in Niederösterreich. Er fand vergangene Wochenende statt. Zählt im wettkampfarmen Corona-Sommer 2020 zu den ganz wenigen Bewerben, die überhaupt stattfinden. Und hat ein schönes Motto: "Was vorstellbar ist, ist machbar"!

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Günther Matzinger konnte sich vorstellen, beim Mostiman anzutreten. Dass das machbar ist, weiß er: "Zum Ende meiner Leichtathletikkarriere hin peile ich die Qualifikation für Tokio im Triathlon an", sagt er. Tokio, nur zur Erinnerung, ist Olympia. Der Salzburger würde dort gerne 2021 antreten – bei den Paralympics. Kein unrealistisches Ziel. Das weiß, wer Matzinger je auf einer Tri-Strecke gesehen hat. Auch wenn sein Handicap ihn beim Schwimmen nicht ins Weltspitzenfeld der Nichtbehinderten vorstoßen lässt: Bei den "Paras" ist er vorne dabei. Und auf "normaler" Bewerbebene abseits von Olympia auch bei den Nichtbehinderten. Etwa beim Mostiman – wenn man ihn lässt. Aber die Geschichte soll Günther einfach selbst erzählen. Ich übernehme hier ungekürzt und umkommentiert den Text seines Facebook-Postings unmittelbar nach dem Bewerb. Denn mich macht das, was da passierte, zu grantig, um es sachlich wiederzugeben.

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Günther Matzinger schreibt:

"In meiner Sportkarriere wollte ich nie eine Sonderbehandlung und habe immer mit ganz normalen 'nichtbehinderten' Athleten trainiert. Bis zu meinem 20. Geburtstag wusste ich nicht mal, dass ich mit meinen 400er-Zeiten bei Paralympics gut abschneiden würde.

Dass ich von Athleten, Trainern und Trainingskollegen stets integriert wurde, als wäre es das Normalste auf der Welt, hat sicher dazu beigetragen, dass ich internationale Para-Erfolge feiern konnte und Österreichischer Staatsmeister der Nichtbehinderten über 800 m werden konnte.

Was mir dieses Wochenende bei der Triathlon-ÖM (Österreichische Meisterschaften, Anm.) in Wallsee widerfahren ist, war jedoch das krasse Gegenteil der oben beschriebenen Inklusion im Sport. Bereits einige Wochen im Vorfeld hatte ich angefragt, ob ein Start bei den ÖM möglich wäre.

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Laut Reglement waren trotz Windschattenverbots nur normale Rennräder erlaubt. Ein solches habe ich auch und bin damit beim Wettkampf gefahren, allerdings habe ich einen Umbau mit Zeitfahrlenker drauf, so dass ich mit Prothese fahren kann und eine zweite Bremse mit links greifen kann. Ein etwaiger aerodynamischer Vorteil wird durch das Fehlen des Unterlenkers und bremsen ausschließlich über die Vorderbremse mehr als aufgehoben.

Meine Anfrage an den Verband wurde nie offiziell beantwortet, und auch ein erneuter Austausch in der Vorwoche blieb ohne Ergebnis. Das Rad wurde beim Check-in zugelassen, und am Renntag bekam ich noch zugesichert, man werde sich für eine reguläre Wertung einsetzen. Auch zahlreiche Trainer und Top-Athleten hatten sich für eine reguläre Wertung ausgesprochen.

Das Rennen selbst war top organisiert und mit Weltklasseathleten besetzt. Mein Schwimmen war mittelmäßig, aber auf dem Rad und beim Lauf konnte ich eine gute Leistung abrufen, sodass am Ende sogar die 22. Zeit bei den Männern stand. In der AK 30-34 wäre das sogar der 3. Platz gewesen. Wäre – denn da wurde ich nicht inkludiert.

Ich war am Boden zerstört und finde es enttäuschend, dass Inklusion hier offensichtlich nur ein Lippenbekenntnis ist. Mir geht es nicht darum, auf dem Podium zu stehen oder anderen Athleten Platzierungen streitig zu machen, sondern nur darum, unter normalen Bedingungen an einem Wettkampf teilnehmen zu können und dabei nicht behindert zu werden.

Natürlich habe ich nach dem Rennen offiziellen Protest eingelegt. Bis jetzt habe ich keine Antwort erhalten."

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Günther Matzingers Posting regte auf. Nicht nur mich.

Es hagelte Kritik und Solidaritätsbekundungen. Von Athleten, von Trainern, von Sportinteressierten. Auch die Politik hat die Geschichte mittlerweile auf dem Radar. Unter anderem teilte Peter L. Eppinger, Kanzler-Intimus und VP-Wien-Wahlkämpfer, Matzingers Posting. Ein paar Watschen von gutmeinenden Außenstehenden bekam in den Kommentaren auch der Veranstalter ab – zu Unrecht: Für Regelwerk, Kontrolle und etwaige Ausnahmen sind der Verband und die von ihm gestellten Rennrichter zuständig. Das ist in jedem Sport so – und richtig: Stellen Sie sich ein Fußballmatch vor, bei dem der Hausschiedsrichter von St. Hanappi seine eigenen Abseitsregeln definiert und exekutiert – und die nicht zwingend mit denen im Happelstadion ident sein müssen.

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Doch auch der Triathlonverband fühlt sich zu Unrecht geprügelt. Herwig Grabner, der Generalsekretär des Österreichischen Verbands, erklärte auf Nachfrage, dass es sich um ein laufendes Verfahren handle und er deshalb dazu nichts sagen könne. Im Laufe der Woche werde es eine Jurysitzung geben, zu der – und das ist außergewöhnlich – auch Günther Matzinger eingeladen sei.

Nach Lesart des Verbands habe man Matzinger mitgeteilt, dass er mitfahren und in der Bewerbswertung aufscheinen könne, seine Leistung aber nicht für die Staatsmeisterschaften gültig sei: Der aus Sicherheitsgründen verbotene Zeitfahrlenker (auf denen hat man beim Windschattenfahren hat keine Chance, auf Manöver des Vordermannes zu reagieren, darum ist "Drafting" beim Triathlon ja meist verboten) wäre eben zu gefährlich.

Dass Matzingers den Aero-Lenker braucht, um mit Prothese fahren zu können, ist unumstritten. Dass der scheinbare Aero-Vorteil durch andere Faktoren am Rad mehr als aufgehoben werde und keine Wettbewerbsverzerrung darstelle, betont auch Grabner. Dennoch: "Es ist eine schwierige Frage. Eine Sondersituation." Der Vorwurf zu diskriminieren, trifft Grabner – hörbar – hart: "Wir sind in Sachen Inklusion doch ein Vorzeigeverband!"

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Man könnte jetzt technische Details durchdeklinieren. Oder fragen, was eine Klassement-Aufsplittung mit Sicherheit zu tun hat. Aber diese Kolumne ist dafür der falsche Ort. Matzinger hat aber eine Logikfrage: "Heißt das, dass ich – wenn ich zehn Minuten schneller gewesen wäre – den Mostiman zwar gewonnen, aber gleichzeitig nicht Staatsmeister geworden wäre? Muss man das verstehen?"

Das, betont er, sei aber akademisch und theoretisch: "Ich will keinem anderen Athleten seinen Platz, seinen Triumph, seinen Pokal oder etwa seinen Stockerlplatz in der Altersklassenwertung streitig machen. Hier geht es nicht um Rang oder Platzierung. Hier geht es um etwas viel Wichtigeres."

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Ich sehe das wie Günther Matzinger: Es geht um eine grundsätzliche Frage. Die, ob man Inklusion lebt – und dafür Regeln auch einmal adaptiert.

Oder ob Regeln eben Regeln sind. In Stein gemeißelt und auf Punkt und Komma zu exekutieren. Auch wenn erst dadurch jenes Adjektiv schlagend wird, das all den Günther Matzingers dieser Welt erklärt, zeigt und beweist, dass sie anders sind.

Dass sie nicht mitmachen können – weil sie nicht mitmachen dürfen.

Nicht weil sie behindert sind – sondern weil sie behindert werden.

Nicht nur im Sport. Der ist hier, wieder einmal, nur eine Metapher. (Thomas Rottenberg, 29.7.2020)

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