Lisa Haderer ist Leiterin des Pflegeteams der niederösterreichischen Patienten- und Pflegeanwaltschaft. Sie überblickt die Situation in vielen Altenheimen.
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Menschen in Pflegeheimen können wegen der Pandemie viel weniger besucht werden, dabei ist das oft ihre größte Freude.
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STANDARD: Als Leiterin der Pflegeanwaltschaft überblicken Sie viele Einrichtungen in Niederösterreich. Wie ist die Situation derzeit?

Haderer: Das Coronavirus ist wie ein Vergrößerungsglas für Probleme, unter dem der Bereich auch schon vor Jänner 2020 gelitten hat. Es gibt Personalengpässe, die Leute dort arbeiten auf Anschlag, und für die Bewohnerinnen und Bewohner ist es eine Katastrophe, ihre Familie nicht mehr sehen zu können. Besonders schwer tun sich Menschen mit dementiellen Erkrankungen, da sie das Ganze ja auch kognitiv nicht mehr erfassen können. Sie verstehen gar nicht, was da passiert und warum sie plötzlich allein sind.

STANDARD: Weil es Besuchsbeschränkungen gibt?

Haderer: Vielleicht vorneweg: Es gibt von Pflegeheim zu Pflegeheim große Unterschiede. Generell ist es so, dass jedes Haus auch schon vor der Corona-Pandemie Hygienekonzepte hatte. Infektionserkrankungen waren schon immer eine große Gefahr für alte Menschen, daran hat das Coronavirus nichts geändert. Aber alle Pflegeheime haben anders auf die Pandemie reagiert. Vorbereitet war in diesem Sinne niemand und konnte auch niemand sein. Und deshalb gibt es auch unterschiedliche Regelungen, eine davon sind eingeschränkte Besuchsmöglichkeiten.

STANDARD: Wie unterschiedlich sind die Situationen?

Haderer: Sehr. Es kommt auf die Leitung an, vor allem am Anfang der Pandemie waren sehr viele Pflegeheime überfordert und haben aus Angst sehr rigide Zugangsbeschränkungen für Angehörige etabliert oder haben auch den Bewohnerinnen und Bewohnern einen Ausgang versagt. Der Grat zwischen Freiheit und Sicherheit ist sehr, sehr schmal geworden. Man musste erst Erfahrungen sammeln, mit dem Virus umgehen lernen. Aber viele haben das jetzt in den Griff bekommen. Personalmangel gibt es nach wie vor. Es ist wichtiger denn jemals zuvor, die Pflegereform umzusetzen.

STANDARD: Wie genau würden Bewohnerinnen und Bewohner profitieren?

Haderer: Zu wenige qualifizierte Pflegepersonen müssen zu viele Pflegende betreuen. In Wirklichkeit ist es ja so, dass viele Angehörige pflegerische Aufgaben übernommen haben. Sie kommen, helfen beim Essen, gehen mit den Leuten ins Freie, verbringen Zeit mit ihnen. Durch den Lockdown war das nicht mehr möglich. Schließlich war es ja das Ziel, die sozialen Kontakte so gering wie möglich zu halten.

STANDARD: Wie wichtig sind diese sozialen Kontakte, wenn es darum geht, das Infektionsrisiko und damit auch das Sterberisiko klein zu halten?

Haderer: Soziale Kontakte sind in Pflegeheimen hundertprozentig wichtig. Die Familie oder der Besuch von Freunden ist ja oft das Einzige, was den alten Leuten noch Freude im Leben bereitet. Menschen brauchen Menschen, besonders am Ende eines Lebens. Der Lockdown hat gerade in jener Gruppe, die geschützt werden sollte, viel Leid verursacht.

STANDARD: Was wäre eine Alternative gewesen?

Haderer: Es geht gar nicht mehr darum, zurückzublicken. Die Situation war für alle neu, es gab keine bessere Lösung. Ich mache mir Sorgen wegen der Zukunft. Es ist ja auch nicht so, dass das Sterben in Pflegeheimen durch Isolation generell verhindert werden kann. Die alten Menschen sind am Ende ihres Lebens, und sie wissen das ja auch. In der Corona-Pandemie wurden sie – wenn auch zu ihrem Schutz – isoliert und in der Freiheit beschränkt. Andere bestimmten mitunter sehr rigoros über sie. Das ist keine gute Situation, die fortgesetzt werden sollte.

STANDARD: Sondern?

Haderer: Ich denke, es geht darum, den Menschen auch die Eigenverantwortung wieder zurückzugeben. Angehörige, die regelmäßig ins Pflegeheim kommen, wollen doch auch niemanden anstecken und können eigenverantwortlich entscheiden. Und es gibt Leute, die ihre Enkel weiter sehen wollen, weil sie ihnen die größte Freude sind. Das sollten sie entscheiden dürfen.

STANDARD: Aber was, wenn dann jemand das Virus einschleppt?

Haderer: Mich stört auch schon das Wort einschleppen. Es suggeriert, dass jemand die Schuld daran hätte oder verantwortungslos wäre. Das Virus gibt es, es wird nicht mehr verschwinden. Und Pflegeheime sind Orte, an denen das Sterben ein allgemeines Thema ist. Wir sprechen ja auch mit den Leuten über den Tod. An anderen Infekten wie etwa der Influenza ist doch auch niemand schuld.

STANDARD: Doch an sich wurde die Mortalität in Pflegeheimen immer auch als eine Messlatte für gutes Corona-Management betrachtet. Sehen Sie das nicht so?

Haderer: Nein, Leute sterben mit und ohne Corona. Mir geht es um die Lebensqualität der Bewohner und Bewohnerinnen in der letzten Lebensphase. Und ja, vielleicht sollte man in jedem Haus einen Bereich schaffen, wo infizierte Patientinnen und Patienten von qualifiziertem Personal betreut werden können. Das wäre eine Option, die sinnvoll wäre, um eine Ausbreitung im Heim gering zu halten. Zudem überleben viele ja auch im hohen Alter eine Corona-Infektion.

STANDARD: Sie sehen also in der jetzigen Regelung eine Einschränkung der Freiheitsrechte für alte Menschen?

Haderer: Ja. Ich denke, man sollte realistische Konzepte ausarbeiten, nach denen sich Pflegeheime orientieren können, um erforderliche Einschränkungen so gering wie möglich zu halten.

STANDARD: Aber immer wieder machen Angehörige auch die Betreiber von Pflegeheimen dafür verantwortlich, wenn es zu einer Infektion kommt. Ist es nicht auch eine Haftungsfrage?

Haderer: Wie gesagt, man muss das definieren, dann können sich alle danach richten. Jetzt ist es gerade so, dass sich die Einstellungen schnell ändern. Das hören wir aus den Häusern. An einem Tag loben Angehörige die Pflegekräfte über den grünen Klee, am nächsten drohen sie mit gerichtlichen Schritten. Die Direktionen vieler Pflegeheime haben derzeit massive Angst vor den Medien, die eine Infektion dann als Fahrlässigkeit ausschlachten könnten. Dadurch werden die Regeln nur noch viel rigider. Wie gesagt: Isolation und Quarantäne verursachen viel Leid bei den Menschen, die gepflegt werden.

STANDARD: Was sollte sich ändern?

Haderer: Pflegeheime lassen sich nicht schließen. Wir müssen mit dem Risiko umgehen lernen, und wir müssen die Leute, die dort arbeiten, unterstützen. Viele arbeiten am Limit. Viele haben Migrationshintergrund, waren seit Monaten nicht zu Hause. Es geht darum, dass System Pflege allgemein auf bessere Beine zu stellen. Die Corona-Pandemie zeigt ganz klar, wie notwendig das ist. (Karin Pollack, 29.7.2020)