Viele Arbeiter mussten in den letzten Monaten ihr Werkzeug niederlegen. Wer in Österreich den Job verliert, stürzt finanziell erst einmal ab, kann sich dann aber auf eine relativ stabile Leistung verlassen.

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Werner Kogler ist ein Mann vieler Worte, doch diesmal reichte ihm ein Satz, um für Unverständnis zu sorgen. In einem Interview mit dem Kurier hat der Vizekanzler ein degressives Arbeitslosengeld zum grünen Ziel erklärt und damit nicht nur Einspruch aus der oppositionellen SPÖ und der Gewerkschaft – "eine kalte Ansage" – geerntet. Auch mancher Parteifreund Koglers war irritiert. Schließlich findet sich solch ein Plan in keinem grünen Programm wieder.

Wo die Idee hingegen auftauchte, war das türkis-blaue Regierungsprogramm vom Dezember 2017. ÖVP und FPÖ wollten das Arbeitslosengeld stufenweise sinken lassen, je länger es bezogen wird, und bei der Gelegenheit auch gleich die Notstandshilfe als Nachfolgeleistung streichen. "Hartz IV durch die Hintertür" witterten die Grünen damals mit Verweis auf die berüchtigten Arbeitsmarktreformen in Deutschland.

Haben sich die Grünen in der Regierung von der ÖVP umdrehen lassen? Davon könne keine Rede sein, sagt Markus Koza, Sozialsprecher der Partei im Parlament: "Wir wollen nicht, dass auch nur ein Arbeitsloser weniger Geld bekommt wie bisher."

Erst mehr, dann weniger Geld

Um die Debatte zu verstehen, muss man wissen: Mit 55 Prozent des Nettolohns zahlt Österreich zu Beginn zwar ein vergleichsweise niedriges Arbeitslosengeld, dafür bleibt die Leistung aber selbst bei langem Bezug relativ stabil. Zwar rasseln Betroffene nach gewissen Fristen, die von der vorherigen Beschäftigungszeit abhängen, auf die Notstandshilfe hinunter, die nur noch 92 Prozent des Arbeitslosengeldes ausmacht. Doch in den anderen Industriestaaten fällt der Absturz weit rasanter aus (siehe Grafik). Ein deutscher Arbeitsamtkunde etwa erhält statt 60 Prozent zu Beginn nach fünf Jahren nur noch 22 Prozent des einstigen Nettoverdienstes.

Es gibt Stimmen, die sich am internationalen Mainstream ein Beispiel nehmen wollen. Der wirtschaftsliberale Thinktank Agenda Austria etwa propagiert ein Modell, wonach das Arbeitslosengeld für die ersten 17 Wochen bei 65 Prozent liegen soll, für die nächsten 18 Wochen bei 55 Prozent, um danach auf 45 Prozent abzusinken. In genau diesem Geiste, heißt es informell aus grünen Kreisen, hätten Vertreter der ÖVP schon mehrmals vorgefühlt.

Welchen Nutzen verspricht diese Idee? Eine höhere Leistung zu Beginn lindert klarerweise den Schrecken des Jobverlusts, weil der finanzielle Absturz moderater ausfällt und nicht so schnell Existenznöte auslöst. Stabilere Kaufkraft hält überdies die Wirtschaft kräftiger am Laufen, wovon alle profitieren.

Die in der Folge vorgesehenen Kürzungen gelten als Anreiz, in die Arbeitswelt zurückzukehren: Wer empfindliche Einbußen nahen sieht, werde sich möglichst rasch um ein Comeback bemühen. Daten des Arbeitsmarktservice (AMS) zeigen überdies, dass ein Gros der Betroffenen die Degression nicht fürchten muss: Im Vorjahr, noch vor der Krise, fanden 71 Prozent der Arbeitslosen innerhalb von drei Monaten wieder eine Beschäftigung.

Hauptsache Job, egal welcher

Sinkende Leistungen könnten durchaus zur Jobsuche animieren, sagt Thomas Horvath vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo), schickt jedoch mehrere Aber hinterher. Wer unter finanziellem Druck steht, nehme womöglich Tätigkeiten an, die nicht der eigenen Qualifikation entsprechen – das mache weder die Arbeitgeber glücklich noch die Arbeitnehmer, die dann erst recht wieder nicht lang blieben. Höheres Arbeitslosengeld zu Beginn könne unerwünschte Nebenwirkungen haben, da dadurch der Anreiz steige, die Beschäftigung bei geringer Auslastung kurzfristig zu unterbrechen.

Der Senkung der Leistungen nach unten seien überdies Grenzen gesetzt, sagt Horvath: Weil etwa wegen Teilzeitarbeit nur geringe Ansprüche erworben wurden, erhalten rund acht Prozent der Bezieher von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe so niedrige Leistungen, dass die öffentliche Hand per Sozialhilfe aufs Existenzminimum aufstockt. Was bei der einen Leistung gekürzt wird, würde also durch die andere kompensiert werden – es sei denn, der Staat will ein Armutsproblem schaffen. Schon jetzt gelten drei Viertel der Langzeitarbeitlosen als armuts- und ausgrenzungsgefährdet.

Viel mehr Arbeitslose als Stellen

Zu guter Letzt verweist der Experte noch auf den problematischen Zeitpunkt für solch einen Umbau: Wenn – wie Ende Juni der Fall – 463.500 Arbeitslosen lediglich 63.200 offene Stellen gegenüberstehen, dann sei mit Motivationsanreizen allein wenig auszurichten. Auch die Agenda Austria empfiehlt, ihr Modell erst bei einem Aufschwung anzuwenden.

Der internationale Vergleich bietet keine eindeutige Empfehlung. Die Agenda verweist auf die Vorbilder Dänemark und Schweden, wo der Anteil der Langzeitarbeitslosen niedriger ist, Horvath auf Deutschland mit einer höheren Quote. Insgesamt sei Österreichs Weg "sicher nicht erfolglos", bilanziert der Wifo-Forscher und warnt davor, Anreize als Allheilmittel zu überschätzen: Der "gut austarierte Mix" aus Qualifikation, Förderungen und anderen Maßnahmen mache es aus.

Worauf sich die Regierung einigt? Während sich die ÖVP bedeckt hält, schlägt der grüne Sozialsprecher Koza Pflöcke ein. Inakzeptabel nennt er Modelle wie jenes der Agenda Austria und verweist darauf, dass die Grünen im Wahlprogramm die Erhöhung des Arbeitslosengeldes für alle Bezieher auf 70 Prozent gefordert haben. Wenn schon Degression, dann müsse diese bei eben jenen 70 Prozent starten und dürfe am Ende das aktuelle Mindestniveau nicht unterschreiten: "In dem Fall verwehren wir uns einer Diskussion natürlich nicht. Aber eines ist klar: Das kostet Geld." (Gerald John, 29.7.2020)