Leopold Öhler ist Vorstand der 1. Abteilung für Innere Medizin und Onkologie am Wiener St.-Josef-Krankenhaus.
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Die Verzögerung um drei Monate hat die Ausgangssituation mancher Patientinnen und Patienten deutlich verschlechtert.
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Bis Mitte Juni wurden aufgrund der Corona-Pandemie in deutschen Krankenhäusern schätzungsweise 50.0000 Krebsoperationen, Diagnose- sowie Früherkennungsmaßnahmen verschoben – das berichtet die Deutsche Krebshilfe. Ähnlich dürfte die Situation in Österreich sein.

Belegbar sind diese Zahlen jedoch nicht, sagen Ärzte. Lebensnotwendige Behandlungen seien nicht aufgeschoben worden, heißt es. Zudem wurde auch deswegen weniger behandelt, weil Betroffene Angst vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 in ärztlichen Einrichtungen hatten.

Und wie war die Situation in Österreich während des Lockdowns? Auf Anfrage beim Gesundheitsministerium heißt es, dass keine validen Zahlen zu Operationen vorliegen, die aufgrund der Pandemie aufgeschoben werden mussten. Wie es Patientinnen und Patienten gegangen ist, weiß Leopold Öhler, Vorstand der 1. Abteilung für Innere Medizin und Onkologie am Wiener St.-Josef-Krankenhaus.

STANDARD: Wurden Tumoroperationen sowie Diagnose- und Früherkennungsmaßnahmen wegen fehlender Intensivbetten verschoben?

Öhler: Es ist möglich, dass auch hierzulande einige Operationen verschoben wurden – sei es, weil Patienten Angst vor einer Ansteckung hatten oder, seltener, weil Intensivkapazitäten freigehalten wurden. Letzteres führte dazu, dass mehrere Patienten aus anderen Häusern zu uns ins Spital kamen. Ich glaube aber, dass insgesamt nicht viele lebensnotwendige Operationen verschoben wurden. Das Hauptproblem sind vermutlich nicht durchgeführte Erstdiagnosen. Etwa dass die Leute Verdächtiges – wie Blut im Stuhl oder tastbare Tumore, beispielsweise in der Brust – nicht gleich untersuchen ließen. Offenbar hatten viele Betroffene Angst, sich beim Arztbesuch mit dem Coronavirus zu infizieren. Teilweise waren aber auch die Arztpraxen im niedergelassenen Bereich als erste Anlaufstelle geschlossen.

STANDARD: Welche Folgen hat das?

Öhler: Wir haben jetzt den Eindruck, dass es einen Anstieg bei fortgeschrittenen Krebsdiagnosen gibt. Das ist natürlich statistisch nicht belegt. Wenn sich das bewahrheitet, wird die Therapie dieser Krebserkrankungen aufwendiger und nebenwirkungsreicher sein, als wenn Diagnose und Therapie früher erfolgt wären.

STANDARD: Haben Patienten aus Angst vor einer Ansteckung ihre Chemotherapie unterbrochen oder erst zu einem späteren Zeitpunkt angetreten?

Öhler: Es hat niemand eine bereits begonnene Therapie abgebrochen. Aber wir hatten Einzelfälle, in denen Krebspatienten nicht zu einer geplanten Chemotherapie erschienen sind, weil sie sich bedingt durch den Lockdown und düstere Szenarien nicht ins Spital getraut haben. Möglicherweise haben sie die Notwendigkeit rascher Therapie nicht richtig eingeschätzt. Diese Patienten kommen jetzt zu uns, haben aber leider unnötig kostbare Zeit verstreichen lassen. Die Verzögerung um rund drei Monate hat ihre Ausgangssituation deutlich verschlechtert. Statt kurativ müssen wir bei manchen jetzt palliativ behandeln.

STANDARD: Wie war die Behandlungssituation in den onkologischen Abteilungen?

Öhler: Wir haben keine Behandlungen für maligne Krebserkrankungen verschoben. Das Credo in unseren Häusern war allgemein: "Alles, was notwendig und überlebenswichtig ist, wird gemacht. Alles, was die Prognose verschlechtern könnte, wird nicht verschoben." Im März diskutierten wir Onkologen heftig darüber, ob eine Chemotherapie noch durchführbar sei oder dadurch das Risiko für eine etwaige Infektion mit dem Coronavirus und für Folgeprobleme erhöht ist. Die Meinungen gingen ziemlich auseinander. Aber zur Chemotherapie und ihrer Verschiebung gibt es gute Daten, die zeigen, dass sich ihre Wirkung verschlechtert, wenn man sie über eine gewisse Zeitspanne hinaus verschiebt. Deshalb hatte ich mich dazu entschlossen, die Chemotherapie bei meinen Patienten auch weiterhin durchzuführen. Und das war gut so.

STANDARD: Durch welche Maßnahmen haben Sie das Infektionsrisiko für Ihre Patienten klein gehalten?

Öhler: Die onkologischen Abteilungen befinden sich im obersten Stockwerk, sodass sie relativ problemlos von allen anderen Spitalsbereichen strikt abgrenzbar waren. Die Patienten kamen ohne Begleitung über einen separaten Checkpoint ins Spital. Bei Verdacht auf eine Infektion mit dem Coronavirus wurde getestet. Apothekenlieferungen wurden am Lift vor der jeweiligen Abteilung ohne direkten Kontakt übergeben. Patientenbesuche durch Angehörige waren bei uns, wie auch in allen anderen Abteilungen, nur bei sterbenden Patienten möglich, um endgültig Abschied zu nehmen. Eine weitere Sicherheitsmaßnahme war, die Versorgung der Patienten allein durch das onkologische Team abzudecken, auch der Nachtdienst wurde nicht von anderen Abteilungen mit abgedeckt. Inzwischen wurden die Vorsichtsmaßnahmen schrittweise zurückgefahren. Es gibt mittlerweile wieder Physiotherapie, Psychotherapie, und pro Tag und Patient ist ein Besucher erlaubt.

STANDARD: Was raten Sie für den Fall eines erneuten Anstiegs der Infektionszahlen?

Öhler: Das Risiko einer Infektion mit Sars-CoV-2 wird durch die Vorteile einer onkologischen Therapie aufgewogen. Covid-19 führt auch bei onkologischen Patienten nicht zwangsläufig zum Tod, eine unbehandelte Krebserkrankung aber schon. Basierend auf unseren Erfahrungen rate ich deshalb Patienten und Kollegen, unter optimalen Sicherheitsvorkehrungen wichtige onkologische Therapien in solchen Situationen unbedingt durchzuführen beziehungsweise fortzusetzen. (Gerlinde Felix, 9.8.2020)