Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt und aus der verarbeitenden Industrie, anhaltende Unsicherheit über die Reisemöglichkeiten der Briten, die bevorstehende Streichung staatlicher Hilfen für Firmen – für die britische Wirtschaft bringt der August keine sommerliche Erholung. Den schweren Konjunktureinbruch in diesem Jahr wird Großbritannien nach Meinung vieler Ökonomen erst 2024 wieder einigermaßen wettgemacht haben. Zu den vielen roten Zahlen, die weltweit das Bild bestimmen, gesellt sich für die Insel die anhaltende Unsicherheit über die Ausgestaltung des Brexits.

Seriösen Schätzungen zufolge sind in Großbritannien rund 65.000 Menschen an Covid-19 gestorben; selbst nach der offiziellen Zahl des Gesundheitsministeriums (bis Donnerstagmittag: 45.961) gab es anteilig so viele Tote so beklagen wie nirgendwo sonst auf der Welt bis auf Belgien. Im Wochendurchschnitt liegt die Zahl der Todesopfer täglich bei mehreren Dutzend, vor allem England verzeichnet jeden Tag Hunderte von Neuinfektionen.

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Warum kommen die Brexit-Verhandlungen nicht in Fahrt? Über die Ursachen gehen die Ansichten der Briten und der EU auseinander.
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Allein in den ersten beiden Pandemie-Monaten April und Mai schrumpfte die Volkswirtschaft im Königreich um ein Viertel. Das sei genauso viel wie das Wachstum der vergangenen achtzehn Jahre, hat Finanzminister Rishi Sunak vorgerechnet und von "schwerwiegenden ökonomischen Problemen" gesprochen. Im immens wichtigen Immobilienmarkt kam es im Mai nur zur Hälfte der normalerweise üblichen Verkäufe. Die Autoindustrie hat im ersten Halbjahr 2020 so wenig Vehikel produziert wie zuletzt 1954, 11.000 Jobs gingen verloren. Die Reisefirma Tui kündigte am Donnerstag die Schließung von 166 Filialen an.

Zweistelliger Rückgang

Übereinstimmenden Prognosen zufolge dürfte der BIP-Rückgang in diesem Jahr zweistellig ausfallen. Das angesehene Institut Niesr redet diese Woche von zehn, die Beratungsfirma EY prognostizierte 11,5 Prozent, ziemlich genauso schlimm wie die OECD-Vorhersage vor Monatsfrist. Was die Welt derzeit erlebe, analysiert Niesr-Direktor Professor Jagjit Chadha, sind "Schrumpfprozesse, die es zu unseren Lebzeiten noch nicht gab".

Das betrifft nicht zuletzt die Tourismus- und Gastronomie-Branche, die bisher mehr als zwei Millionen Menschen beschäftigt, darunter viele Niedrigverdiener, Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten. Am Wochenende verfügte die konservative Regierung von Premier Boris Johnson hastig eine neue 14-tägige Quarantäne für sämtliche Einreisende aus Spanien und ruinierte damit die Pläne von Millionen reiselustiger Briten. Flehentlich baten am Donnerstag 47 betroffene Unternehmen den Regierungschef um eine Differenzierung der Maßnahme, beispielsweise nach Regionen, sowie um größere Testkapazität an den Flughäfen. Andernfalls drohe der Branche "permanenter Schaden".

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Zum Corona-Schock gesellt sich die Unsicherheit angesichts der stagnierenden Brexit-Verhandlungen. Das zukünftige Verhältnis des Königreiches zum größten Binnenmarkt der Welt muss spätestens im Herbst geklärt werden, sonst herrscht vom 1. Jänner an vor allem in der Wirtschaft Chaos.
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Finanzminister Sunak brüstet sich mit seinem Hilfsprogramm für Firmen und Selbstständige in Höhe von insgesamt 160 Milliarden Pfund (177 Milliarden Euro). Dadurch wird die Staatsverschuldung 2021 auf mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen. Da die Inflation zuletzt bei 0,6 Prozent lag und Großbritannien als zuverlässiger Schuldner gilt, konnte die Regierung Staatsanleihen zu Rekord-Niedrigzinsen verkaufen.

Dass sich Sunak bis Ende Oktober aus dem Hilfsprogramm ausschleichen will, ist nach Meinung der Niesr-Wissenschafter weder fiskalisch noch arbeitsmarktpolitisch zu rechtfertigen. Bisher erhalten Arbeitnehmer in Kurzarbeit bis zu 2.500 Pfund (2.770 Euro) monatlich vom Staat. Sunak winkt stattdessen fürs Quartal bis Ende Jänner mit einer Prämie von bis zu 1.000 Pfund monatlich für Firmen, die in dieser Zeit ihre Angestellten weiterbeschäftigen und allenfalls umschulen.

Stockende Verhandlungen

Zum Corona-Schock gesellt sich die Unsicherheit angesichts der stagnierenden Brexit-Verhandlungen. Das zukünftige Verhältnis des Königreiches zum größten Binnenmarkt der Welt muss spätestens im Herbst geklärt werden, sonst herrscht vom 1. Jänner an vor allem in der Wirtschaft Chaos ("No Deal").

Hatte Premier Johnson vor sechs Wochen den Abschluss der Verhandlungen für Ende Juli avisiert, sprach EU-Unterhändler Michel Barnier kürzlich vom 31. Oktober als letzten Termin für eine Einigung. Über die Ursache für fehlende Fortschritte gehen die Meinungen auseinander. Großbritannien habe erst in der zweiten Hälfte diesen Monats den Problemen ernsthaft ins Auge gesehen, tadelt der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan. Die EU bediene sich "ungewöhnlicher" Verhandlungstaktik, klagt Downing Street.

Hinter vorgehaltener Hand zeigen beide Seiten weiterhin vorsichtigen Optimismus; dieser bezieht sich allerdings lediglich auf ein Abkommen über Güter, womöglich Berufsabschlüsse, nicht aber Dienstleistungen. In jedem Fall steht den Volkswirtschaften auf beiden Seiten ein weiterer Schock bevor. (Sebastian Borger, 31.7.2020)