In der Hofstallgasse trifft sich jeden Sommer die Kultur Europas.

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Als würde man im Gehen festfrieren. Der Winter 1916/1917 in Österreich war so beißend kalt wie seit Menschengedenken nicht mehr. Fußgänger mussten sich zwischen übermannshohen Schneehügeln ihren Weg bahnen. Kaum eine Bim fuhr mehr in Wien.

In vielen Mietshäusern hatte die Kälte Wasserleitungen zum Platzen gebracht. Sonntags machten sich nicht nur die Armen auf in den Wienerwald, um Holz zum Heizen zu klauben. Die Hauptstadt des Habsburgerreiches war still. Kaum eine Glocke schlug mehr. Fast alle waren dem Militär übergeben worden, um sie zu Kanonen umzuschmelzen.

Auf den Gassen hörte man Geklapper. Als Schuhsohlen musste statt Leder Holz verwendet werden. In der Inneren Stadt sah man, wie die Fassaden der Stadtpalais, Großbanken und Ministerien immer bräunlicher wurden. Der Ruß der aus Syrien importierten minderwertigen Braunkohle setzte sich in den Ornamenten fest.

Von Jänner bis Februar 1917, in den Alpen einer der schneereichsten Winter des 20. Jahrhunderts, gab es eine strenge Kältewelle, Theater, Kinos und Konzertsäle schlossen, ebenso die Schulen. Im April des Vorjahres war die Sommerzeit eingeführt worden, um Strom zu sparen. Im April 1917, fast zeitgleich zur Aufführung von Leo Falls populärer Operette Die Rose von Stambul in Baden, über deren selige Schnucki-Blödigkeit sich Karl Kraus in der Fackel echauffierte, reichte der Theaterregisseur Max Reinhardt, den in Berlin es nicht mehr recht halten wollte, in Wien eine Denkschrift zur Errichtung eines Festspielhauses in Hellbrunn ein.

Darin rhapsodierte er: "Neben vielen höchst bedeutungsvollen Erscheinungen, die unsere Zeit uns offenbart, ist auch die bemerkenswerte Tatsache zu verzeichnen, dass die Kunst, insbesondere die Kunst des Theaters sich in den Stürmen des Krieges nicht nur behauptet, sondern ihr Bestehen und ihre Pflege geradezu als unumgängliche Notwendigkeit erwiesen hat."

Und weiter: "Die Welt des Scheines, die man sich durch die furchtbare Wirklichkeit dieser Tage ursprünglich aus allen Angeln gehoben dachte, ist völlig unversehrt geblieben, sie ist eine Zuflucht geworden für die Daheimgebliebenen, aber ebenso für viele, die von draußen kommen und auch für ihre Seele Heilstätten suchten. Es hat sich gezeigt, dass sie nicht nur ein Luxusmittel für die Reichen und Saturierten, sondern ein Lebensmittel für die Bedürftigen ist." Der hauptstädtischen Administration kam das arg hochfliegend vor. Und utopisch. Und wurde ad acta gelegt.

Die Grundidee war sechs Jahre alt. Hermann Bahr, der zu Salzburg im Schloss Arenberg residierte, hatte Reinhardt Shakespeare-Spiele vorgeschlagen. 1918, Österreich-Ungarn hatte sich inzwischen am Isonzo und in den Höhen Südtirols ausgeblutet, war es dann so weit, die Gründung von Festspielen als "erstem Friedenswerk" drei Monate vor Ausrufung des Friedens.

Schnittpunkte der Kultur

"Möge das Festspielhaus ein Feiertagshaus künstlerischer Kultur Europas zu Gast in Österreich werden", schwärmte der Festredner Rudolf Holzer bei der ersten ordentlichen Generalversammlung der Salzburger Festspielhausgemeinde am 15. August 1918. Im Auge stets dabei: die wirtschaftlich-touristische Sicht, auf dass jedermann komme. Und die Reichen und Saturierten Geld in der Salzachstadt lassen.

Mit der Pause 1938 bis 1945 wurde Hofmannsthals Jedermann jährlich gegeben, 1946 in Reinhardts originaler Konzeption wieder installiert als Freiluft-Herzstück.

General Mark Clark, US-Hochkommissar für Österreich von 1945 bis 1947, setzte als eine seiner ersten Aktionen Heinrich Baron Puthon neuerlich als Präsident der Festspiele ein, den die Nationalsozialisten 1938 seines Amtes enthoben hatten. Clarks erster öffentlicher Auftritt auf österreichischem Boden war am 12. August 1945 – in Salzburg bei der Eröffnung der Festspiele. In seiner Ansprache sagte er, dies sei ein Symbol für die "gemeinsame Arbeit des österreichischen Volkes und der Vereinten Nationen, ein freies unabhängiges Österreich wiederherzustellen", was bald "glücken" würde.

Vier Jahre später sagte Bundeskanzler Leopold Figl in seiner Eröffnungsrede der Festspiele "in der Mitte Europas" – er war auf der Durchreise nach Straßburg, zur allerersten Sitzung des kurz zuvor ins Leben gerufenen Europarates –, diese, "im Schnittpunkt der verschiedensten Geistesrichtungen und politischen Interessen", seien eine "Manifestation nicht nur des österreichischen, sondern auch des gesamteuropäischen Kulturwillens", seien "ernste Rückbesinnung auf die gemeinsamen Kulturwerte" und gäben "Wunsch und Hoffnung jedem, der für uns alle eine bessere Zukunft ersehnt".

Dabei war die rückwärtige Zukunft der Festspiele nie durchgehend gut gewesen. Anfang der 1920er-Jahre wären sie mehrere Male falliert, wären Stadt und Land nicht auffangend eingeschritten. Ende 1926 war ein Fonds installiert worden, dessen einzige Aufgabe: die dauerhafte Finanzierung der Touristen anziehenden Festivität abzusichern.

Die Salzburger Festspiele sind eben eine "Hochschaubahn der Gefühle", so Helga Rabl-Stadler, seit 1995 Präsidentin der Festspiele und heuer in ihrem letzten Amtsjahr. Das führt der Katalog zur Landesausstellung Großes Welttheater vor Augen.

Der zweisprachig publizierte Band – die Zweisprachigkeit hat kurze Essays zur Folge, zugleich einen aufgeblähten Umfang – enthält neben anderem kluge Ausführungen und Beiträge der deutschen Kulturwissenschafterin Aleida Assmann, des Wiener Historikers Oliver Rathkolb (über die Festspiel-Geschichtsschreibungsmoden nach 1945) und etwas launige Prosa Hermann Beils.

Dazu Exkurse über Barock und dessen Echos, Kultur, Mythen und Gedächtnis, Wiederholung und Wieder-Holung, naheliegend angesichts Hofmannsthals Wirken als Bearbeiter alter Stücke.

Die "künstlerische Kultur" der Welt zu Gast in Salzburg. Nebenbei rollt auch der Rubel – oder die zum Jubiläum der Festspiele von der Münze Österreich ausgegebene Silbermünze.
Münze Österreich AG

Flott erzählte Festspielhistorie

Anderes, ein Text über Rundfunkgeschichte oder Ausstellungsspiegelgeschichten, mutet dagegen wenig zwingend bis arg nebensächlich an. Die Abbildungssektion mit 100 kuriosen überraschenden Objekten aus 100 Jahren – vom Bühnenbildminiaturmodell über Standmikrofon bis zu Kostümen und dem Wäschekorb aus Verdis Falstaff – und deren Erläuterung krankt etwas an defizitärer prägnanter Gewichtung.

Viel flotter erzählt der junge deutsche Musikjournalist Malte Hemmerich von 100 Jahren Festspielhistorie, versucht sich hier als Feuilletonist, dort als Reporter, beides nicht wirklich überzeugend. Noch eiliger geht es durch die Geschichte. Reinhardt, Hofmannsthal, Clemens Krauss, Richard Strauss, Karajan, Mortier, Muti und Landesmann, Flimm, Sellars, Harnoncourt und Hinterhäuser, Plácido Domingo, Anna Netrebko und Jonas Kaufmann, im Geschwindschritt geht es durch die Jahrzehnte.

Hemmerich geizt nicht mit harmlos jubilierenden Adjektiven, zu oft erinnert sein Parlando an Pressetextverlautbarungen und Internetgeplauder. Dass Helga Rabl-Stadler ein achtseitiges Vorwort beisteuert, signalisiert bereits Distanz zu Grundsatzkritik. Gern eingesetztes Stilmittel: die rhetorische Frage.

Aber, um eine seiner Fragen zu variieren, ist so wenig immer auch gut? Ist es nicht. Als allererste Einführung ist dies Bändchen für jene geeignet, die bisher noch nie etwas über die Festspiele gelesen haben, für mehr ist es schlicht zu schlicht. In Hemmerichs Literaturliste findet man Bände, die zu lesen sich hingegen lohnen, die anregender sind.

Anregend sind tatsächlich die nun in einem schwergewichtigen Band versammelten Festspiel-Dialoge, seit 1994 ein hochfliegend anspruchsvoller Teil der Festspiele. Hochkarätige europäische Intellektuelle wurden geladen, so Eric Hobsbawm, André Glucksmann, Elisabeth Bronfen, Heiner Müller, Nike Wagner, Wolf Singer, Bazon Brock, Ivan Nagel und Carl Djerassi.

Angepasste Garderobe

Sie sprachen über Ästhetizismus und Barbarei (2014), das Frauenbild der Festspiele (2010), Wendezeiten (1995), Spiel und Terror (2003), Eros und Thanatos (2008) oder Utopien (1994). Lustigerweise sind die zwischen Klarheit und akademischer Drolerie schwankenden Hauptreden dieser Denkveranstaltung im Buch alphabetisch nach Beiträgern geordnet. Ganz am Schluss erst findet man die erhellendere chronologische Abfolge.

Vera Graaf, gebürtige Berlinerin und Jahrzehnte lang Journalistin und New-York-Kulturkorrespondentin, lebte 16 Jahre mit Michael Zimmer (1934–2008) zusammen, dem einzigen Sohn Christiane von Hofmannsthals, Hugo von Hofmannsthals Tochter. Der 1934 geborene, in Harvard ausgebildete Architekt und hippieske Aussteiger war ein Filmenthusiast, so sehr, dass er seine Garderobe stilbewusst dem jeweiligen Film anpasste – italienischer Film: Kaschmirpullover, Film aus Skandinavien: dicker Fischerpullover.

1969 kaufte er ein Grundstück auf der französischen Antilleninsel Saint-Barthélemy. Auf der Nachbarinsel Virgin Gorda, die zu den British Virgin Islands gehört, im Nordosten der Karibik eröffneten er und Graaf 1974 ein Kino. TV-Apparate gab es damals dort kaum. Im Herbst 1975 mussten sie nach reich investiertem Herzblut zusperren. Der profane Grund: zu wenige Besucher. Nun hat die achtzigjährige Vera Graaf aufgeschrieben, wie sie ihre insulare Cinephilie auslebten. Eine interessante Kulturarabeske im Zeichen des Jedermann ist das, exzentrische Ergänzung des Hofmannsthals-Kosmos.

Denn an dessen Tantiemen partizipierte auch Michael Zimmer, Lebenskünstler und später Gründer eines Sardinen-Museums und einer Hering-"Hall of Fame" auf einer kanadischen Insel.

Wie heißt es gleich zu Anfang des Spiels vom Sterben des reichen Mannes? "Der Stoff ist kostbar von dem Spiel, dahinter aber liegt noch viel, das müsst ihr zu Gemüt euch führen, und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren." (Alexander Kluy, 1.8.2020)

Ilse Fischer und Helga Rabl-Stadler (Hg.), "Festspiel- Dialoge". € 39,– / 544 Seiten. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2020
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Martin Hochleitner und Margarethe Lasinger (Hg.), "Großes Welttheater." € 25,– / 484 Seiten mit vielen Abb. Residenz, Salzburg 2020
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Vera Graaf, "Hofmannsthals Enkel. Das karibische Große Filmtheater". € 19,– / 296 Seiten. Müry Salzmann, Salzburg
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Malte Hemmerich, "100 Jahre Salzburger Festspiele. Eine unglaubliche Geschichte in fünf Akten". € 18,– / 142 Seiten. Ecowin, Salzburg 2019
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