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Die Trauerrede Barack Obamas wurde auch nach draußen übertragen.

Foto: Reuters / Elijah Nouvelage

Washington – Lange war Barack Obama der guten Sitte gefolgt. Diese sieht für frühere US-Präsidenten vor, sich nach ihrem Abgang in der Öffentlichkeit zurückzuhalten und Nachfolgern bei ihrer Regierungsführung nicht dreinzureden. Lange hatte sich Obama daran weitgehend gehalten – und dafür auch von Verbündeten immer wieder Kritik kassiert. Immerhin, so deren Argument, sei Donald Trump kein normaler Präsident. Obama hätte seine hohen Beliebtheitswerte nutzen müssen, um den neuen Mann im Weißen Haus auch öffentlich zurechtzuweisen.

Washington Post

Nun, weniger als hundert Tage vor der Präsidentenwahl, scheint er die Rufe gehört zu haben. Bei der Beerdigung des Bürgerrechtskämpfers John Lewis, der vor zwei Wochen einem Krebsleiden erlegen war, trat ein kämpferischer Obama ans Rednerpult. Er übte harsche, wenn auch meist indirekte Kritik an seinem Nachfolger – und forderte vor allem eine umfassende Wahlrechtsreform in den USA.

Obama widmete seine Ansprache dem Kampf für Mitbestimmung aller Teile der amerikanischen Bevölkerung, in dessen Dienst Lewis sein politisches Leben gestellt hatte. Er erinnerte an Methoden, mit denen schwarze Wählerinnen und Wähler noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts im Süden der USA von der Stimmabgabe abgehalten worden waren – darunter die berüchtigten "Intelligenztests", die in Wahrheit unlösbare Aufgaben stellten. Man müsse, sagte Obama, "heute nicht mehr erraten, wie viele Jelly Beans sich in einem Glas befinden", um wählen zu dürfen. "Aber auch während wir hier sitzen, versuchen jene, die derzeit Macht haben, ihr Schlimmstes, um Menschen vom Abstimmen abzuhalten." Er verurteilte damit die Schließungen von Wahllokalen in mehrheitlich schwarzen Wahlkreisen und Gesetze, mit denen Wählerinnen und Wähler zur Vorlage bestimmter Identitätsnachweise gezwungen würden.

Neues Wahlrecht

Just an dem Tag, an dem Präsident Donald Trump eine Verschiebung des Votums wegen angeblicher Betrugsgefahr bei Briefwahl in den Raum gestellt hatte – eine solche gilt nach wissenschaftlichen Untersuchungen als unwahrscheinlich –, warnte Obama auch vor Angriffen auf das US Postal Service, mit denen der Präsident die Abhaltung des Votums verunmöglichen wolle. Trump hatte vor einigen Wochen wichtige Gelder für die amtliche amerikanische Post zurückgehalten.

Allerdings gehe es nicht nur um die korrekte Abhaltung der Wahl. Auch die Modalitäten müssten sich ändern, um möglichst vielen Menschen demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Zu den Maßnahmen, die Obama vorschlug, zählt eine automatische Registrierung aller Wahlberechtigten für die Teilnahme bei der Abstimmung – so wie sie in vielen europäischen Ländern Usus ist. Bisher muss sich in den meisten Bundesstaaten jeder selbst um die Anmeldung zur Wahl kümmern. Zudem fordert Obama, allen entlassenen Häftlingen, die ihre Strafe verbüßt haben, das Wahlrecht zurückzugeben. Auch die Zahl der Wahllokale solle erhöht und der Wahltag – ein Dienstag – zu einem Feiertag gemacht werden. Damit müssten sich Menschen nicht mehrere Stunden lang von der Arbeit freinehmen, nur um ihre Stimme abgeben zu können.

Ein letzter Brief von John Lewis

Zudem fordert der Ex-Präsident eine massive Änderung im Kongress. Die Hauptstadt Washington, D.C., und das US-Außengebiet Puerto Rico mit seinen 3,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sollten Abgeordnete in Senat und Repräsentantenhaus stellen dürfen. Beides würde vermutlich die Machtbalance in den Kammern in Richtung der Demokraten verschieben – und ist wohl auch aus diesem Grunde eine langjährige Forderung der Partei. Würde es dazu kommen, wüchse der Senat von 100 auf 104 Sitze an. Beide Gebiete würden dann auch stimmberechtigte Abgeordnete im Repräsentantenhaus bekommen – bisher stellen sie nur Beobachter. Zudem will Obama Puerto Rico Wählmänner beim Präsidentenvotum zugestehen. Bisher können die Menschen dort nicht mitentscheiden, wer sie von Washington aus regiert.

Abseits des Wahlrechts übte der Ex-Präsident auch harte Kritik am Vorgehen gegen die Black-Lives-Matter-Proteste. "Wir werden Zeugen, wie unsere Bundesregierung Polizeiagenten entsendet, um Tränengas und Schlagstöcke gegen friedliche Demonstranten einzusetzen", sagte er.

Den verstorbenen Lewis würdigte Obama als einen der "Gründerväter" der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Er hatte, wie am Donnerstag bekannt wurde, noch kurz vor seinem Tod einen Abschiedsbrief verfasst, der nun in der "New York Times" veröffentlicht wurde. In dem Schreiben fordert er vor allem junge Menschen auf, den Kampf für Gerechtigkeit fortzusetzen. Man müsse dazu bereit sein, sich auch "guten, notwendigen Ärger einzuhandeln", wenn es der Gerechtigkeit diene. (Manuel Escher, 31.7.2020)